Autorin Verena Roßbacher beim "texte & töne"-Festival im ORF-Landesstudio.
Peter Niedermair · 29. Apr 2018 · Aktuell

Kulturelle Werte sind Verhandlungssache - Internationale Bodensee Konferenz-Kulturforum 2018: „Freie Szene – Darstellende Kunst“

Kernthema des Kulturforums 2018 der IBK, das am 27. April 2018 am Spielboden Dornbirn konferierte, war der grenzüberschreitende Austausch. Ca. einhundert Teilnehmende aus den Mitgliedsländern der IBK trafen sich zum Diskurs über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der „Freien Szene“ und wollten Beispiele gelungener und nicht erfolgreicher Projekte reflektieren. Es ging auch um einen Vergleich der kommunal-städtischen, der regional-kantonalen Förderpraktiken und Hinweise auf erfolgreiche und neue Fördermodelle. Auf einer praktischen Ebene wurden Adressen der relevanten Ansprechpartner inventarisiert und Möglichkeiten der Vernetzung grenzüberschreitender Projekte überlegt. Das Programm des Nachmittags orientierte sich an der inhomogenen, vielgestaltigen Zielgruppe der Freien Szene der Darstellenden Künste: Theater, Tanz, Performance, Artistik, KulturverstanstalterInnen, Netzwerk Organisationen, Fördergeber und AdministratorInnen aus der Verwaltung.

Viele Themen, viele Fragen …

Für einen Nachmittag waren das doch ziemlich große und vor allem ambitionierte Ziele, die man mit einem sorgfältig geplanten und durchwegs attraktiven Programm zu erreichen anstrebte. Da gab es einen Impulsvortrag von Barbara Herold, der die Themen aufspannte, eine methodisch klug eingefädelte Filterung der den Anwesenden zentral wichtig erscheinenden Fragestellungen von Bertram Meusburger vom Büro für Zukunftsfragen, drei Gesprächsrunden mit jeweils den wesentlichen Akteuren und Playern aus den Mitgliedsländern der IBK zu den Bedingungen der Freien Szene: Machen, moderiert von Brigitta Soraperra, Fördern, moderiert von Winfried Nußbaummüller, und Veranstalten, Moderation Raffaela Rudigier-Gerer. Die immense Vielfalt vor allem auch in den Divergenzen wurde klar herausdestilliert und gleichzeitig wurde deutlich sichtbar, dass in allen Ländern der IBK auf der kommunalen wie regionalen Ebene historisch unterschiedlich gewachsene Strukturen existieren, die man maximal deskriptiv erfassen und in ihren Bedeutungen sowie Vor- und Nachteilen für die Freie Szene taxativ aufzählen kann. In den abschließenden, themenspezifisch moderierten gemeinsamen Reflexionen wurden Vernetzungsideen gesammelt. Die Gesamtmoderation hatte Raffaela Rudigier-Gerer, Kulturjournalistin und Artistin. Die Gesamtverantwortung lag in den Händen der Kulturabteilung des Landes Vorarlberg, von dort aus agierte Winfried Nußbaummüller mit einem erfahrenen und engagierten Vorbereitungsteam. 

Freiheit der Kunst

Eingangs betont Margrit Bürer, Leiterin des Kulturamts Appenzell Ausserrhoden und Sprecherin der IBK Kulturkommission unisono mit Winfried Nußbaummüller, dass gerade heute die Unabhängigkeit der Kulturschaffenden von grundlegend wichtiger Bedeutung sei und die IBK ein taugliches Format, die Kooperationen im Bodenseeraum (und darüber hinaus, muss man hinzufügen) weiter zu entwickeln. Zentral sei die Freiheit der Kunst. Dies ist ein existenzieller Hinweis auf die gegenwärtige politische Situation in Europa, auf die populistischen Versuche, die öffentlich-rechtlichen Medien in ihrem demokratiepolitischen Auftrag zu beschneiden und der Privatisierung das Wort reden. Die Versuche, jene Kulturszene, die das ganze Jahr hindurch die kulturell-künstlerische Grundversorgung leistet, zu marginalisieren, nehmen beständig zu. Die Initiative „kultur um 6“, die am 28.4. am Dornbirner Marktplatz ein beeindruckendes Kultur-Manifest präsentierte, schreit nicht Zetermordio, sondern klärt auf, welche Rolle Kunst und Kultur für die demokratischen Grund- und Menschenrechte spielen. Das kulturelle Klima in einem Land, in allen Ländern insgesamt, bemisst sich immer an der Streitbarkeit und Diskurswilligkeit in der Gesellschaft. Politisch-gesellschaftliche Veränderungen und Fragen, die in der Freien Szene thematisiert werden, sind immer sensible Seismographen. Und da beginnen wir erst langsam davon zu reden, dass es ein grundlegendes Kindermenschenrecht auf Kunst und Kultur gibt. Dort, in der Musik, im Theater, im Spiel, liegt der Zauber für die Entwicklung der Kinder zu kritischen, denk- und empathiefähigen Individuen.

Barbara Herold – „Freie Szene im Bodenseeraum“

Ihr Impulsreferat beginnt die Theaterregisseurin Barbara Herold mit einem Zitat der Studie „Freie Darstellende Künste im ländlichen Raum Baden-Württembergs. Evaluation - Gastspielförderung - Bestandsaufnahme - Veranstaltersituation“ des dortigen Landesverbandes „Freie Tanz- und Theaterschaffende e.V. – LAFT“: Zur Definition des Begriffs Freie Szene: „Eine allgemeingültige Definition, die allen künstlerischen Ausdrucksformen und Strukturen der Freien Theater gerecht wird, gibt es nicht. Sie in einen starren begrifflichen Rahmen zu zwängen, widerspräche ihrem Selbstverständnis.“ Die 2016 in  Baden-Baden veröffentlichte Studie, ISBN 978-3-00-051875-1, ist eine wertvolle Grundlage, sich ein Gesamt- und Detailbild über diese Freie Szene zu machen. Die Studie erkundet auf 120 Seiten das relativ gesehen wenig beachtete Kultur-„Land“, weil sich verständlicherweise und ableitbar aus traditionellen Zusammenhängen und Entstehungsbedingungen in allen Ländern um den Bodensee der kulturelle Fokus immer eher auf die Metropolen, die Städte und urbanen Agglomerationen gerichtet hat. Unzählige Gespräche mit den Kulturverantwortlichen vor Ort, ergänzende Online-Befragungen in einzelnen Gemeinden, eine genaue Aufschlüsselung der Gastspiele und des lokalen Kulturangebots sowie die Analyse der bisherigen Förderstruktur ergeben ein detailliertes Bild von den Darstellenden Künsten in Baden-Württemberg abseits der städtischen Zentren. „Die Studie“, so die Herausgeber der ländlichen Kulturinventarisierung, „eröffnet so nicht nur eine neue Sicht auf ein vernachlässigtes Thema. Sie gibt der Kulturpolitik ein wertvolles Instrumentarium an die Hand, auf dessen Basis sich begründete und belastbare Schlüsse ziehen und Entscheidungen treffen lassen.“ Sie ist in den Beschreibungen des Status quo durchaus vergleichbar der Vorarlberger „Kulturstrategie“ aus dem Jahr 2016, die ein Jahr nach der „Kulturenquete – Zur Inventarisierung der Kulturlandschaft Vorarlbergs“ im Februar 2015, von der Kulturabteilung des Landes Vorarlberg veröffentlicht wurde.

Zur Professionalität in der Freien Szene

Die baden-württembergische Studie nennt als ein essentielles Kennzeichen der Freien Szene, die „professionelle Arbeitweise, die hauptberuflich ausgeübt wird“; meist haben die AkteurInnen eine entsprechende Ausbildung absolviert. Diese Freie Szene/freien Gruppen produzieren und veranstalten Kunst und Kultur, sie sind angetreten, „um zum kulturellen Leben, zu kultureller Bildung beizutragen, zu einem gesellschaftlichen Miteinander und zur Reflexion darüber.  (…) Und dass dieses Tun Arbeit ist, die neben dem ideellen auch einen materiellen Wert hat, der angemessen und gemäß den Prinzipen der Gleichstellung bezahlt werden muss.“ In der Entstehung der Freien Szene gibt es allerdings Unterschiede zwischen den Ländern des Bodenseeraums. Deutschland hat die reichste Theaterlandschaft der Welt" und  ist nominiert für das immaterielle UNESCO Weltkulturerbe.“ Die Theaterdichte in Deutschland, so Barbara Herold, gehe letztlich zurück auf die Kleinstaaterei (300), als jedes Herzog- und Fürstentum oder -tümchen mit einem Theaterbau ausgestattet gewesen sei. Die meisten dieser ‚festen Häuser’ werden trotz Kürzungen oder Schließungen bis heute mit  ein, zwei, drei  Sparten dauerhaft bespielt. ‚Feste Häuser’ – das war ursprünglich die Antithese zum Freien Theater, wie es in den 60/70-er Jahren des letzten Jhdts. entstand. In den 1980-er Jahren wurden diese auch als alternatives Theater bezeichnet. Es sollte eine Alternative zu den starren Hierarchien in den großen unbeweglichen Institutionen sein, es bedeutete einen Ausbruch aus dem bildungsbürgerlichen Kanon und eingefahrenen Sehgewohnheiten, es ging um Mitbestimmung, neue Formen, neue Inhalte. Auch an den Theatern musste viel Muff weggelüftet werden. In Österreich verhält es sich anders, auch in der Schweiz und in Liechtenstein.

Fest steht, dass immer mehr AkteurInnen sowohl in der Freien Szene als auch an Institutionen arbeiten. Es gibt keine scharfe Trennung mehr und das ist gut so, weil es belege, dass Darstellende Kunst mit Qualität nicht auf eine bestimmte Organisationsstruktur angewiesen sei. Die Grenzen werden überschritten, weil beide Seiten den Nutzen sehen und es von Vorteil sei, beide Strukturen zu kennen. Dass in der Verteilung von Fördermitteln an Institution und Freie Szene dennoch ein Missverhältnis bestehe, sei ebenfalls Tatsache, obwohl fast gleich viele Menschen erreicht werden. Die jeweiligen Interessensvertretungen der Länder machen immer wieder entsprechende Erhebungen.

Rund um den Bodensee gibt es eine Vielzahl an Veranstaltungsorten. Neben Kulturinitativen, Tennen, Scheunen, Bahnhöfen, Stuhlfabriken gibt es Theater, Kulturhäuser, Stadthallen, Privattheater und vieles mehr. Studiert man die Kulturkalender von saiten.ch bis seeletter, Kulturzeitschrift, appenzellkulturell.ch, kulturzueri falle auf, dass sich die Spielpläne meist am eigenen Festland orientieren. Der Blick sei nicht über den See gerichtet, auch selten am Ufer entlang, man habe den Eindruck, als stünden die meisten mit dem Rücken zum Bodensee und blickten auf die Metropolen in der weiten Ferne ihres Landes. 

Kooperationen über die Grenzen

Barbara Herold berichtet – Ausnahmen bestätigen die Regel – von positiven Beispielen, wo die reale Grenzüberschreitung gelingt. In Vorarlberg gibt es eine haltbare Verbindung nach Liechtenstein, auch nach St. Gallen und ins Appenzell. Für Gruppen ohne ein festes Haus sei es leichter, mit einer Institution zusammenzuarbeiten, wobei es gute Erfahrungen mit Bayern und Baden-Württemberg gibt. In der Schweiz und Liechtenstein scheinen Koproduktionen üblicher zu sein. Tendenziell wirke das westliche Bodenseeufer durchlässiger. Fast alle befragten Compagnien würden gerne grenzüberschreitend arbeiten, auch wenn viele zermürbt seien von den damit verbundenen Hürden und Zusatzaufgaben. Berichtet werde vom Kampf mit den unterschiedlichen Förderbedingungen und Abrechnungsmodalitäten; von der Not mit der Ausländer-Abzugssteuer; von wenig Offenheit bei Veranstaltungsorten; vom Wunsch nach einem Produktions- oder Diffusionsbüro; von zu wenig Vernetzung untereinander; vom Kampf um Anerkennung und Vertrauen, wenn man als Gruppe in beiden Ländern arbeite; von der Angst der Förderstellen, dass das Geld wegfließe und nicht im Land bleibe; vom Spagat zwischen gesellschaftlicher Relevanz und dem Druck des Zuschauererfolgs. Für alle Akteure, egal in welcher Organisationsform, sind Förderungen unerlässlich und wichtig. Die Stiftungen in der Schweiz spielen dabei eine bedeutende Rolle.

Kulturelle Werte sind Verhandlungssache

An diesem Nachmittag wächst das Verständnis für die divergente Situation in der Freien Szene mit jeder Position, die in den drei Podien artikuliert wird; Schritt für Schritt, kaskadisch und mit zunehmendem Staunen. Man nimmt mit großem Interesse und mit Neugier Hinweise auf Good Practice-Beispiele auf, wie etwa der Hinweis von Daniel Imboden, der für die Theaterförderung in der Stadt Zürich zuständig ist und meint, dass Feedbackgespräche für die Szene grundsätzlich wichtig seien, weil Kritikfähigkeit und Gesprächsbereitschaft die Möglichkeit eröffneten, sich qualitativ zu entwickeln. Wolfgang Hauck betont, es sei unumgänglich wichtig und ein Zeichen der Professionalität, mit den „richtigen“ Leuten zu reden, d.h. jene zu kennen, die Entscheidungen treffen. An den Vergabestellen hat man mehr und  mehr begriffen, dass es Begründungszusammenhänge, sog. Marktplätze braucht, auf denen transparent, nachvollziehbar und nachhaltig argumentiert werden kann.  Hauck weist auf den bevorstehenden bzw. gerade sich vollziehenden Generationswechsel in der Freien Szene, hin, wo es Leute gibt, die seit 40 Jahre in diesem Kultur- und Kunstmilieu leben und arbeiten und sich die Frage stellt, wie wir diese Tradition nicht nur archivieren sondern auch kulturpflegerisch behandeln.

Dass es sehr viele unterschiedliche Modelle gibt, ist hier bereits angeschnitten worden. Eine erwähnenswerte Sonderstellung nimmt Pro Helvetia ein, Felizitas Ammann erläuterte die sehr föderalistische Struktur; die Freie Szene werde in den Städten und Kantonen gefördert, innerhalb der Schweiz und auch über die Grenze ins Ausland. Die Szene sei auf Plattformen extrem gut vernetzt, u.a. die Tanzszene, wobei Pro Helvetia besonders auch auf die großen Tourneen der verschiedenen Tanzcompagnien schaue, die nach Paris, Brüssel, Berlin, Kopenhagen und wer weiß wohin touren.

Elisabeth Stöckler, die Gründungsleiterin des Frauenmuseums Hittisau, sprach für die Kulturstiftung Liechtenstein, die im Auftrag der Regierung walte. Seit 2008 gehe man dort einen Sonderweg, der Stiftungsrat sei für alle Sparten zuständig, es gebe den Vorteil der kleinen Wege, was bei 37.000 StaatsbürgerInnen nicht verwundert, das Theater am Kirchplatz in Schaan habe als Staatstheater einen direkten Vertrag mit dem Land, die Stiftung sei offen für die freien Gruppen; maximal 50 % werden gefördert, wodurch es viel Geld von woanders her brauche. Es gebe Werkbeiträge an Einzelpersonen, z.B. ein Werkjahr für künstlerische Entwicklungszeit ohne jeglichen Anspruch auf ein Produkt; und Produktionsförderungen, 90 % der Ansuchen werden bewilligt; im Vergleich dazu: in Vorarlberg 70 bis 80 %.

Peter Hörburger vom Spielboden Dornbirn weist auf die  Bedeutung der Netzwerkplattformen hin, besonders auf „TransEuropal“ – TransEuropeHalles wurde am 7. März 1983 in Lund/Schweden gegründet und ist eine europäische Plattform der unabhängigen, multidisziplinär organisierten Kulturinitiativen Europas. Der Spielboden hat sich im Laufe der Jahre wiederholt in diese Plattform eingeklinkt und mit den autonomen Kulturinitiativen Europas Kontakt gehalten, sich ausgetauscht und kooperiert.

Vorläufiges Fade out - Bis zur nächsten IBK-Konferenz

Abschließende Wünsche für den grenzüberschreitenden Austausch gibt es wie Löwenzahn in unserem Lustenauer Garten, Hunderte von Fallschirmen warten in den Pusteblumen auf ihren Kick-off. Erwartet wird u.a. die Offenheit der Häuser, generell mehr Wertschätzung für die Kunst; neue Festivals, es braucht neue Veranstalter, Wertschätzung in der Gesellschaft, Grundverständnis im Journalismus, das oben bereits erwähnte Kinderrecht auf Kunst und Kultur. Und es braucht Zeit. Von der hätte man sich an der wichtigen Tagung der IBK mehr gewünscht. Das Tempo war schnurstracks hoch, ich fühlte mich, was die Redezeiten betrifft, an New York erinnert, wo man auf Punktsekunde genau, den Strom fürs Mikro ausschaltet. Wenn Vernetzung mehr sein soll als ein plakatives Schlagwort, dann braucht es Zeit und eine gute Umgebung, in der man in Ruhe miteinander reden kann. Netzwerken ist das Werk von Menschen, die miteinander sich austauschen, zuhören, erzählen und: Fragen stellen. Dafür sollte an der nächsten Tagung der IBK mehr Zeit sein. Nur so kann ein Gespür für das Eigene und das Andere wachsen, kann Potential ergründet werden, wenn man gemeinsam „in Schwingung“ kommt und merkt, wo man „anders“ ist. Man muss es halt tun, sagte jemand, dessen oder deren Name ich in der Geschwindigkeit nicht mehr erfragen konnte. Man geht überzeugt weg, im Ohr die Worte der Präsidentin, Frau Bürer aus Appenzell, die Kommission sei beweglich unterwegs, trotz der sehr unterschiedlichen Bedingungen entwickle man neue Formate und führe diese an gemeinsame Handlungsspielräume heran.