Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Peter Niedermair · 22. Apr 2015 · Aktuell

Tage der Utopie 2015 in Arbogast

Am Dienstag, 21. April, eröffneten Hans-Joachim Gögl und Josef Kittinger die Tage der Utopie. In diesem Jahr sind die Tage der Utopie angelegt wie eine Jam-Session der Visionäre. Denn wie in der Jazz-Kultur Musiker bei einer Jam zusammenkommen, so treffen sich in Arbogast eine Woche lang eingeladene Expertinnen und Experten mit einem interessierten Publikum. Man weiß, wer die Eingeladenen sind, hat eine Vorahnung, worüber diese sprechen werden, aber man weiß eben nicht, was dann in Arbogast letztendlich gespielt wird. Die gestrige Utopie-Jam jedenfalls hat sich gut angelassen. Zu Beginn haben die Veranstalter einen klaren Ton angeschlagen, der eine vielversprechende Woche erwarten lässt.

Der Weg ins Freie

Der Eröffnungsabend skizzierte einen „Aktionsplan zur Förderung des guten Lebens“ und stellte bestehende Alltagskultur als Lebenskunst-Projekte vor, schilderte Visionen, Modelle und Geschichten des Gelingens. Zentral war die große Rahmenerzählung des Abends daraufhin orientiert, existierende Möglichkeiten von Visionen und utopisch anmutenden Projekten, die bereits eine dynamische Energie entwickelt haben, mit all ihrem Potential in die Gegenwart zu holen. Das Feld der Utopie wird so zusagen von der Zukunft her ausgelegt und beschrieben. Damit blickt man eigentlich in die Gegenwart, weil man die Differenz durch die Einbettung visionärer Realitäten in die gesamte gesellschaftlich-politische Konstellation ziemlich gut erkennen und einschätzen kann. Alle vorgestellte Projekte entbehren jeglicher moralischer Fingerzeige, es geht nicht um Effizienz und schon gar nicht um Reparatur und es geht nicht um eine Sprache der Reparaturwerkstatt. Es geht um wahrnehmbare Resourcenorientierung, um Aktionspläne, die die Kraft haben, gutes Leben zu fördern. Damit wird kein Anspruch auf Rechthaberei oder Gestaltungsrichtigkeit erhoben. Die beiden Referentinnen, Annette Jensen und Ute Scheub, beide aus Berlin angereist, haben diesen bereits oben anklingenden Ton einen schönen kurzweiligen Abend lang fortgesetzt und im Dialog mit den zahlreichen BesucherInnen an der Grundidee des Utopien-Festivals weiter gestrickt, dass man diese Tage miteinander kreiert, dass man mit einem Geist, der den „Weg ins Freie“ (Schnitzler) geht und offen ist, für das, was sich zeigen wird. Die Tage der Utopie sind immer eine Co-Kreation aller, die in Arbogast zusammentreffen. Und hier spielen viele verschiedene Leute eine Rolle. Jede und jeder ist wichtig. Ebenso wichtig sind die Pausen und Zwischenräume, die Muße ist ganz entscheidend. Man hört, und das gehört zur Grundstruktur des alle zwei Jahre stattfindenden Programms der Tage der Utopie, noch nicht Gehörtes, viel Unerhörtes, man schafft Raum für das Unbenannte und erst noch zu Benennende.

Musik von Wu Wai

Dazu gehört jeden Abend die Musik von Wu Wai. Sein Instrument ist die Sheng, ein über dreitausend Jahre altes Instrument, eine Art Mundorgel, auf der Wu Wai verschiedenste Musikstile mischt, Klassisches von Bach, Vivaldi und Mozart klingt an, das er in seiner spezifischen wie ein lautmalerisches dadaistisches Gedicht vorgetragenen Intonation zu einem Klangteppich anwachsen lässt, ein magischer Spiegel und eine fugale Reise mit variablen Ruheräumen und Beschleunigungen. Jazziges von Dizzy Gillespie und Thelonius Monk kommt daher wie die Subway bei Madison Square Garden auf der 34sten Straße, in einem faszinierenden Furioso, das Tradiertes mit unbekannten Klangwolken kombiniert. Es ist wie in meinem Garten, wenn am Morgen die Vögel zu den Wasserschalen herfliegen und sich ihre Flügel mit Wasser bepfützen und dann hochfliegen in die Kronen des blühenden Birnbaums. Birnen, fragt Hölderlin, woher nimmt man die Sonne. Ich denke, diese Woche aus Arbogast.

Next Exit Happiness

Die Next Exit Happiness Ausfahrt funktioniert natürlich nicht, bzw. nur rudimentär eingeschränkt oder in utopischen Ansätzen. Die Gegenwart ist nicht so glücklich, die Mainstreams ökonomischer Entwicklungen sind zur Entfremdungsszenarien geworden, die Machtkonglomerate bündeln ein paar wenige Superreiche bei gleichzeitig fast einer Milliarde Menschen auf diesem Planeten, die hungern. Die Deregulierung der Wirtschaft braust wie ein supersonic superhighspeed Jet-Train, in dem die bekannten Akteure sich mehr und mehr Macht aufladen, Google, Facebook, Amazon und Ihresgleichen haben Platz genommen in den Taxes-free-Oasen, in denen die Resourcen immer schneller ausgebeutet werden. 20 Jahre Klimakonferenzen haben dazu geführt, dass weltweit 50 % mehr CO2 als am Beginn der ersten Klimakonferenz 1995 in Berlin, alle Verschlängelungsverträge über Post-Kyoto-Regelungen und Bali führten nicht zu Reduktionen von Emissionen. Ganz im Gegenteil. To cut it short: Die Erzählung, dass es den Kindern einmal besser gehen soll, hat sich längst als falsch herausgestellt. Da können, laut den beiden Referentinnen noch lange und gut 90 % der Menschen in Deutschland und Österreich sich wünschen, dass die Wirtschaft ökosozialer wird und, laut Peter Kruse, 86 % einen Paradigmenwechsel wollen. „One man, one vote“ - Das war doch einmal auf der politischen Geschichtsagenda. „Wo bleibt der Staat?“ fragte gestern Abend der weißhaarige Schweizer in der Fragerunde gegen Ende des offiziellen Teils. Ich bin schon gespannt, was er heute Abend fragen wird.

Soziale Fähigkeiten

Forscher sind sich einig: Lebensfreude hängt immer weniger von Geld und Besitz ab. Wichtig für persönliche Glücksgefühle sind soziale Fähigkeiten wie Kooperieren, Teilen oder sich für Andere einsetzen. „Dieses Vermögen“ findet immer öfter Eingang in unsere Arbeitswelt und Gesellschaft. Überall machen sich Menschen auf, Alternativen zwischen Markt und Staat zu suchen, gründen Unternehmen und Initiativen und schaffen eine neue Gemeinschaft, die zwischen dörflichem Zusammenhalt und urbaner Freiheit angesiedelt ist. Die beiden Autorinnen haben Menschen besucht, die ein völlig anderes Leben führen, und berichteten aus der bunten Welt des befreienden Miteinanders, die durch das Internet enorm befeuert wird. Aus ihren Erfahrungen haben sie einen „Aktionsplan zur Förderung des Guten Lebens“ destilliert, der die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfasst. Was macht glücklich? fragen die Berliner Gäste in Arbogast: Bindungen machen glücklich, empathische Beziehungen, das Eingebundensein in Communities, „Love is Blind“, denn manchmal macht Liebe nicht ganz glücklich. Der wichtigste Glückfaktor hat nämlich keinen pekuniären Wert, die Selbst- und Mitbestimmung des eigenen Lebens, Vertrauen in die Menschen, solidarische Ökonomie. Mehr davon auf www.gluecksoekonomie.net

Annette Jensen ist freie Publizistin in Berlin mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Umwelt, Arbeit und soziale Transformation. Seit Jahren spürt sie Pioniere des Wandels auf und beobachtet wachsende Bewegungen, die der herrschenden Ökonomie praktisch etwas entgegensetzen. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem „Wir steigern das Bruttosozialglück. Von Menschen, die anders wirtschaften und besser leben“ und zusammen mit Ute Scheub „Glücksökonomie. Wer teilt hat mehr vom Leben.“

Ute Scheub hat die legendäre deutsche Tageszeitung „taz“ mitgegründet und ein gutes Dutzend Bücher rund um die Themen Frieden, Frauen und Nachhaltigkeit geschrieben. Zuletzt „Terra Preta – Die schwarze Revolution aus dem Regenwald“. Die promovierte Politikwissenschaftlerin engagiert sich ehrenamtlich in diversen Projekten von der lokalen bis zur globalen Ebene und praktiziert nach dem Vorbild von Robert Jungk ermutigenden Journalismus. Deshalb hat sie eine Vorliebe für Geschichten des Gelingens über ökosoziale Pioniere. 1992 erhielt sie den Ingeborg-Drewitz-Preis für ihr publizistisches Gesamtwerk und 2012 den Alternativen Medienpreis der Nürnberger Medienakademie.

Vom Schwarm und wie der in Bewegung kommt sowie weitere Informationen und Details zu den diesjährigen Tagen der Utopie gibt es auf: http://tagederutopie.org/