Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Karlheinz Pichler · 03. Mai 2015 · Ausstellung

Der Alltag an den Rändern des Krieges – Meinrad Schade in der Fotostiftung Schweiz

Üblicherweise sind es die großen Schlachtfelder, die spektakulären Konfrontationen, die im Blickpunkt der kriegsberichtenden Medien stehen. Der 1968 in Kreuzlingen geborene Schweizer Fotograf Meinrad Schade hingegen schaut hinter die zentralen Schauplätze des Geschehens. Er fängt mit seiner Kamera den Alltag in den Vor- und Hinterhöfen des Krieges ein.

In einem Interview bezeichnete sich Meinrad Schade einmal als Kriegsfotograf, der nicht in den Krieg geht. Und so ist es auch. Denn Schade dokumentiert die Zustände an den Rändern des Krieges, nicht die in den Epizentren. Er geht also nicht den Frontlinien nach, sondern er versucht, die Präsenz und die unterschwellige Latenz des Kriegs in einer Art gebrochener Perspektive zu fassen. Er nimmt die Nebenschauplätze von Konflikten ins Visier der Kamera, Orte und Gegenden, die von den Medien übergangen und vergessen wurden. Beispielsweise reiste er 1999 nicht ins Kriegsgebiet Kosovo, sondern er fotografierte Flüchtlinge, die in der Schweiz ankamen und durchs Aufnahmeprozedere geschleust wurden, sowie Kriegs- und Folteropfer, die in der Schweiz medizinisch betreut und behandelt wurden. Der Kosovo wurde zu einem längeren Projekt. Schade hat grundsätzlich ein Faible für langzeitige Untersuchungen. Auch das derzeit in der Fotostiftung dokumentierte Unterfangen „Vor, neben und nach dem Krieg – Spurensuche an den Rändern der Konflikte“ fällt in diese Kategorie. Schade begann dieses Projekt bereits 2003 und arbeitet bis heute daran. Er bereiste dafür Regionen im heutigen Russland und in Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in Israel und im Westjordanland, um sich in einfühlsam - mit enormem persönlichen Engagement - erarbeiteten Essays mit schwelenden und vielleicht wieder ausbrechenden Konflikten zu befassen.

Wolgograd


In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, wird alljährlich am 9. Mai dem Sieg Russlands über Nazi-Deutschland gedacht. Die Stadt, die seither auch den Titel „Heldenstadt“ trägt, wird an solchen Tagen zum Brennpunkt des Patriotismus. Schade mischte sich 2009 unter die Besucher des „Saales des Kampfruhms“ und hielt im Bild fest, wie sich die Leute zusammen mit der Ehrenwache der russischen Armee fotografieren.

Oder nochmals Wolgograd: Auf einem in der Schlacht um Stalingrad hart umkämpften Hügel steht heute die gigantische Statue „Mutter Heimat ruft“. Wie in Prozessionen ziehen die Russen am 9. Mai zu diesem Mahnmal. Schade hat die monumentale Frauengestalt mit erhobenem Schwert auf der Anhöhe, auf die die Scharen auf einem serpentinenartig angelegten Weg zuströmen, vor einem dramatischen Spiel aus Licht und Wolkendunkel in Szene gesetzt. Wie eine böse Ironie der Geschichte mutet an, dass eine „Schwester“ der Statue ausgerechnet in Kiew steht. In der Ukraine also, in der heute wieder russische Panzer und Soldaten unterwegs sind. Die Feiern zum 9. Mai nähren den patriotisch-militaristischen Geist, den Putin so geschickt zu instrumentalisieren weiß.

Spuren überall


Andere Bilder von Meinrad Schade, der früher als Pressefotograf beim St. Galler Tagblatt gearbeitet hat und 2011 mit dem Swiss Photo Award ausgezeichnet wurde,  handeln von intern vertriebenen Tschetschenen im Zeltlager „Sputnik“. Oder von den Vorbereitungen für eine feierliche Zeremonie anlässlich des 65. Jahrestages der Staatsgründung Israels. Auf einer Fotografie flicht eine Teilnehmerin ihrer Kollegin die Haare zu einem Zopf.

Oder es sind Studenten der Al-Istiqlal Universität beim frühmorgendlichen Training zu sehen. Istiqlal bedeutet Unabhängigkeit und soll die Studenten auf die verschiedenen Berufe im Sicherheitsbereich eines unabhängigen Staates vorbereiten. Die Absolventen dieser Uni sind heute praktisch alle in der palästinensischen Autonomiebehörde angestellt.

2010 war der Schweizer Fotograf in Kasachstan unterwegs. Ein Bild aus Dolon zeigt Ludmilla Schakworostowa mit ihren beiden geistig behinderten Söhnen Alexander, geboren 1958, und Anatoli, geboren 1956. Ludmilla hat die Atombombentests aus nächster Nähe miterlebt. Die größte Sorge der 80-jährigen Frau ist die Frage, wer sich nach ihrem Tod um ihre Söhne kümmern wird. Eine andere Fotografie aus Kasachstan zeigt den Kinderspielplatz in Kurtschatow. Die Stadt war die Verwaltungszentrale des ehemaligen Sperrgebietes beim Atomtestgelände „Polygon Semipalatinsk“. Die Aufnahme verströmt eine unglaublich triste Stimmung der Verlorenheit.

Seit einiger Zeit fotografiert Schade auch andere, von einem Massenpublikum frequentierte Kriegsschauplätze, an denen aus wirtschaftlichem Interesse oder unter dem Deckmantel der historischen Aufklärung Kriege realitätsnah inszeniert werden. So findet etwa in der englischen Grafschaft Kent jedes Jahr im Juli die „War & Peace Show“ statt. Es ist eine große Living-History-Veranstaltung, an der sich das Nachspielen vor allem des Zweiten Weltkrieges besonderer Beliebtheit erfreut. Die Menschen, die ein solches Hobby pflegen, nennen sich Re-enactors. Sie tragen die amerikanische Uniform aus dem Zweiten Weltkrieg und ihr angeblich größtes Anliegen sei, die Geschichte für andere erfahrbar zu machen und so das Bewusstsein für die Schrecken des Krieges zu schärfen. In den Gesichtern der von Schade abgelichteten Protagonisten spricht aber viel mehr die Verherrlichung des Krieges. Selbst Kinder rennen hier mit nachgebauten Waffen herum.

Meinrad Schade zeigt in seinen Bilder sehr persönliche, einfühlsame, unbestechliche Sichtweisen auf. Präzise und mit viel Gespür zeigt er die Spuren und Narben der Konflikte, die sich in den Landschaften, Städten, Dörfern und ihren Bewohnern eingeschrieben haben. „Schade entwirft ein beunruhigendes Bild eines labilen existenziellen Zustands zwischen Katastrophe und Normailtät. Er versucht, größere Zuammenhänge zu ergründen, die überall ähnlich sind, sei es in Osteuropa oder in Israel und den palästinensischen Gebieten“, streicht Kurator Martin Gasser heraus.

Parallel zur Ausstellung ist im Verlag Scheidegger & Spiess eine überaus ansprechende Buchpublikation erschienen. Das von Nadine Olonetzky herausgegebene Buch „Krieg ohne Krieg – Fotografien aus der ehemaligen Sowjetunion“ enthält über 160 beeindruckende Bilder sowie Texte von Fred Ritchin, Michail Schischkin, Daniel Wechlin und der Herausgeberin.

 

Meinrad Schade: Krieg ohne Krieg
Fotostiftung Schweiz, Winterthur
Bis 17.5.2015
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotostiftung.ch