"Rickerl – Musik is höchstens a Hobby" derzeit in den Vorarlberger Kinos (Foto: 2010 Entertainment / Giganten Film)
Karlheinz Pichler · 30. Okt 2014 · Ausstellung

Auf Augenhöhe mit dem Asphalt – Rudy Burckhardt in der Fotostiftung Schweiz

Zu Lebzeiten war Rudy Burckhardt nur Insidern als Foto- und Filmschaffender bekannt, obwohl er mit seinen Bildern völlig gegen den Strom „schoss“. Mit 21 Jahren kam er 1935 in New York an und war von der Stadt so fasziniert, dass er gleich dort blieb. Er hielt aber nicht die grandiosen Architekturen und Plätze im Bild fest, sondern zumeist nur Details. Er pickte winzige Ausschnitte wie etwa Hydranten, Gebäudesockel, Beine von Passanten oder den Asphalt heraus und zerschnipselte damit die Metropole fast dadaistisch mit der Kamera. Anlässlich seines 100. Geburtstages unternimmt die Fotostiftung Schweiz in Winterthur eine längst fällige Würdigung seines Schaffens.

Mag der Begriff „Avantgarde“ auch abgedroschen sein, wenn er aber im Bereich der Fotografie auf jemanden zutrifft, dann sicher auf Rudy Burckhardt (1914-1999). Viele werden ihn wohl als verrückt angesehen haben als er, der Enge der Schweiz entronnen, in den 1930er-Jahren in New York landete und seinen sperrigen Fotokasten mitten auf dem Bürgersteig in Manhatten aufstellte und das Nichts fotografierte. Denn was soll schon interessant sein am Straßenpflaster, an Mauerabschlüssen, an Abflussrohren oder an den Kniescheiben von vorbeieilenden Stadtbewohnern? Für Burckhardt waren diese unprätentiösen kleinen Schnipsel der Großstadt wichtiger als die großen Würfe New Yorks. Zumindest am Beginn. Er lichtet sie wie anonyme Skulpturen ab. Mit seinen kuriosen Perspektiven auf Augenhöhe mit dem Asphalt, den eigenwilligen Beschneidungen, die an die Collagetechniken des Dadaismus erinnern, den flächigen Auflösungen und seiner Art der Bildkomposition kam Burckhardt auch der Malerei sehr nahe. Kein Wunder, dass er sich später auch direkt der Malerei widmete.

Burckhardt entstammte einer alteingesessenen Patrizierfamilie in Basel und war dadurch finanziell unabhängig. Vielleicht war es diese Unabhängigkeit, die es bewirkte, völlig frei und gegen jegliche Konvention mit der Kamera umzugehen. Er hatte sich keinen Deut um den Verkauf von Bildern oder die Organisation von Ausstellungen scheren müssen.

Die Duftmarke der Großstadt


1933 beginnt Burckhardt ein Medizinstudium in London, das er aber sofort wieder abbricht. Stattdessen unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge und entdeckt die Großstadt mit seiner Kamera. Später erinnert er sich: „...that was a revelation. My first big city with slums and things out of control. People asleep on the street. Smell of urine. It was great.“ Die Großstadt hatte bei ihm sozusagen eine Duftmarke gesetzt.

Als er 1935 dem amerikanischen Tänzer, Dichter und späteren Tanzkritiker Edwin Denby (1903–1983) nach New York folgt, ist er völlig überwältigt vom geschäftigen Treiben in den Straßen und den extremen Größenverhältnissen zwischen Passanten und Wolkenkratzern. Nach dem exzessiven Fokus auf die Banalitäten der Metropole widmet er sich ab 1939 den Menschen in der Großstadt. Er hält sie mit seiner Leica in flüchtigen, aber spannungsvollen Momentaufnahmen fest. Martin Gasser, der die Schau in der Fotostiftung Winterthur kuratiert, erklärt: „Dabei vermeidet er bewusst den sozialkritischen Blickwinkel vieler seiner Zeitgenossen und konzentriert sich auf die alltäglichen, immer gleichen Bewegungen der Menschen in der Masse, auf die ‚Fast-Kollisionen’ der meist gesichtslosen Figuren auf der Straße. Oft ist sein Blick nach unten gerichtet, wiederum jeglichen Horizont vermeidend, um nur die Füße und Beine der Männer und Frauen ausschnitthaft und in unendlichen Variationen festzuhalten. Fotografie und Film scheinen sich zu überlagern, werden zur gemeinsamen, zweidimensionalen Projektionsfläche für Bewegungen, Formen in Licht und Schatten, für eine Art ‚ballet mécanique’, das sicher auch von Edwin Denbys Interesse für den ‚Tanz’ der gewöhnlichen Menschen auf der Straße inspiriert war.“

Später richtete Burckhardt sein Interesse auf die brachliegenden Gebiete im Stadtteil Queens oder auf die anonymen Dachlandschaften in Manhattan.

Formale Strenge und lyrische Verdichtung


Die Ausstellung „Im Dickicht der Städte“ vereint, chronologisch angeordnet, über 100 Fotografien, die teils aus dem Nachlass, teils aus den eigenen Beständen der Fotostiftung und aus einer Privatsammlung stammen. Die Schau dokumentiert einen sehr persönlichen und eigenwilligen fotografischen Blick auf eine pulsierende Stadt und legt ein Werk offen, das zwischen flaneurhafter Poesie und formaler Strenge oszilliert. Ein Werk, bei dem sich radikale Einfachheit und Direktheit sowie lyrische Verdichtung zu einer absolut modernen Bildsprache verbünden.

 

Rudy Burckhardt: Im Dickicht der Städte
Fotostiftung Schweiz, Winterthur
Bis 15.2.2015
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotostiftung.ch