Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Karlheinz Pichler · 27. Mär 2015 · Ausstellung

Jedes Bild ein fotografisch-kompromissloses Einzelstatement zur Zeit – Paul Strand im Fotomuseum Winterthur

Der große amerikanische Vertreter der fotografischen Moderne Paul Strand erschloss neue ästhetische Möglichkeiten für das Medium der Fotografie und blieb gleichzeitig der Welt, die er ins Bild setzte, engagiert verbunden. Die erste Retrospektive Strands in Europa nach seinem Tod 1976 gibt einen erlesenen Einblick in das Werk eines Fotografen, der dieses Metier in der Kunst verorten wollte und auch dem Film wichtige Impulse gab.

Ohne Zweifel rangiert Paul Strand in der Rangliste der wichtigsten Vertreter der Fotografiegeschichte in der vordersten Reihe. In der sieben Dekaden umfassenden Zeitspanne, in der er aktiv und gewaltig produktiv war, lieferte er einen fundamentalen Beitrag darin, das ästhetische Potenzial der Fotografie im Bereich der visuellen Künste freizulegen und ständig zu untermauern. Aber es blieb nicht nur bei der Ästhetik. Strand erforschte auch das humanistische Potenzial der Fotografie im Sinne eines Instrumentariums, die Welt und das Verständnis für das Dasein auf eine neue Weise zu sehen.

Die Ausstellung im Fotomuseum Winterthur erschließt anhand einer sehr breiten Auswahl von Arbeiten die ganze Vielseitigkeit im Schaffen von Paul Strand. Angefangen von den frühen Bemühungen, die Fotografie als eine moderne Kunstform zu etablieren, über ein starkes filmisches Interesse, bis hin zu den bedeutenden Fotobüchern der Nachkriegszeit. Dabei kristallisiert sich auch die komplexe und widersprüchliche Persönlichkeit Strands hervor, nämlich der sture Ästhet auf der einen Seite und der Sympathisant mit dem Kommunismus auf der anderen Seite, und letztlich auch der am Ländlichen interessierte Fotograf mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Fragen.

Orientierung an der zeitgenössischen Kunst


Die chronologisch angelegte Retrospektive zeigt zu Beginn einen Fotografen, der sich mit Abstraktionen, Stillleben und Porträts formal an der Malerei orientiert. Strand versuchte, Schlüsselerkenntnisse aus der zeitgenössischen Kunst, besonders aus dem Kubismus und aus Arbeiten amerikanischer Künstler aus dem Umfeld von Alfred Stieglitz, in die Fotografie aufzunehmen. Er suchte auch den direkten Kontak zu bildenden Künstlern. Er wollte unter anderem herausfinden, was denn der Wert von Abstraktion sein könnte für jemanden, der „die reale Welt fotografieren möchte“. Im Jahre 1917 traf er in New York mit der Malerin Georgia O´Keeffe zusammen. Diese schrieb darauf an ihre Freundin Anita Pollitzer: „Er zeigte mir viele seiner Fotografien. Und ich habe wegen ihnen fast den Verstand verloren.“ Strand konnte mit seinen für die damalige Zeit ungewöhnlichen Fotografien offenbar auch bekannte Kunstschaffende aus der Fassung bringen.

Strand experimentiert mit Weichzeichnerlinsen und Gummidruck, er befasst sich mit dem Thema der fotografischen Abstraktion anhand von Haushaltgegenständen sowie architektonischen Fragmenten und schafft Naturstudien, die dank Langzeitbelichtung trotz schlechter Lichtverhältnisse erstaunliche Tiefenwirkung aufweisen. Parallel dazu wächst sein Interesse an städtischen Sujets, was etwa anhand einer Reihe eigenwilliger Nahaufnahmen von Menschen in den Straßen von New York City belegt wird.

Eigenschaften von Orten und Geschehnissen sichtbar machen


Paul Strand zeigte auch permanent Interesse am Reisen. Er war speziell darauf versessen, mit der Kamera Eigenschaften von Orten und Geschehnissen sichtbar zu machen, die anderweitig nicht erfahrbar sind. Zwischen 1932 und 1934 fotografierte er in Mexiko. Das Land beeindruckte ihn nachhaltig, was auch sein Engagement für linke politische Anliegen vertiefte. Um Menschen heimlich ins Bild zu setzen, befestigte er ein Prisma auf der Linse seiner Graflex-Kamera. Solcherart entstand eine Reihe von fesselnden Personenporträts. Darüber hinaus befasste er sich mit den Lebensumständen mexikanischer Bauern, und es entstand in der Folge der Zyklus „Bultos", eine Bildserie von geschnitzten und bemalten religiösen Figuren in mexikanischen Kirchen. Strands romantische Abwendung vom Modernismus tritt in diesen Bildern erstmals hervor: Sie sind der Versuch, einen Aspekt des Lebens zum Ausdruck zu bringen, von dem er glaubt, dass er langsam verloren ging.

Politische Haltung


Das Strand, der 1990 als Nathaniel Paul Stransky in New York zur Welt kam, ein sehr politischer Mensch war, zeigt sich nicht zuletzt in seinen Filmen, die in der Ausstellung ebenfalls vorgestellt werden. Dies gilt zwar nicht für seinen Erstling „Manhatta“ (1921) , der als erster amerikanischer Künstlerfilm gilt. In ihm zeichnet er in poetisch-eindgringlichen Sequenzen das Leben in New York nach, unterlegt mit Zwischentiteln aus Walt Whitmans Gedichtband „Leaves of Grass“ (1855). Aber in der Dekade zwischen 1934 und 1942, als die große Weltwirtschaftskrise noch ihre Schatten warf, tritt das Politische umso mehr in den Vordergrund. In dieser Zeit wird das Medium Film das wichtigste Ausdrucksmittel Strands. „Redes“ (1936) etwa verweist auf die Geschichte von Fischern in Veracruz, die für bessere Löhne streiken und schließlich eine Gewerkschaft gründen. „Native Land“ (1942) wiederum hat die Verletzung von Bürgerrechten und die Versuche einer Zerschlagung der Gewerkschaften in Amerika zum Thema.

Fotobücher


Nach 1945 widmete sich Strand hauptsächlich seinen Fotobüchern, in denen er komplexe Porträts von Menschen und Orten schuf. Das zusammen mit der Kuratorin Nancy Newhall herausgegebene „Time in New England“ ist sein erstes Buch und gleichzeitig sein letztes amerikanische Projekt, bevor er wegen der Kommunistenjagd McCarthys den Staaten den Rücken kehrt und nach Frankreich geht. Dieses Werk hat den Kampf amerikanischer Bürger für ein gerechtes Amerika zum Thema. In Europa begab er sich auf die Suche nach weiteren Gemeinschaften, die seine politischen Ideale widerspiegelten. So befasste er sich speziell mit dem italienischen Dorf Luzzara in der Po-Ebene. Daraus entstand 1955 das Buch „Un Paese: Portrait of an Italian Village“, das von Cesare Zavattinis neorealistischer Ästhetik beeinflusst ist. Im Zentrum stehen Porträts der Dorfbewohner bei der Arbeit und zu Hause, eine bewegende Hommage an das Alltagsleben. Dem folgten das technologiekritische Buch „Tir a'Mhurain“ (1962) und „Living Egypt“ (1969) nach. In letzterem spürte er der prosowjetischen Politik des arabischen und afrikanischen Sozialismus nach. Strand fotografierte aber auch in Afrika. In „Ghana: An African Portrait“ (1976) setzte er einem Land ein fotografisches Denkmal, das erst kurz zuvor die britische Kolonialherrschaft abgeschüttelt hat und dabei ist, eine sozialistische Zukunft aufzubauen.

Paul Strand starb 1976, mit 85 Jahren, in seinem Haus in Orgeval außerhalb von Paris, wo er mit seiner dritten Frau lebte. Hier fand er am Ende seines Lebenskreislaufes wieder zu seinen formalästhetischen Anfängen zurück, in dem er in seinem eigenen Garten Naturbeobachtungen anstellte. Die Ausstellung schließt folglich mit einer Reihe von lyrisch-meditativen Stillleben, die im Zuge dieser Studien in Orgeval entstanden sind, einer Hommage an die Natur.

 

Zur Ausstellung ist ein grandioser, ausführlicher, wissenschaftlich fundierter Katalog erschienen, herausgegeben vom Philadelphia Museum of Art und Yale University Press in Zusammenarbeit mit der Fundación Mapfre. Die Ausstellung „Paul Strand –Fotografie und Film für das 20. Jahrhundert“ wurde vom Philadelphia Museum of Art in Zusammenarbeit mit der Fundación Mapfre entwickelt. Im Anschluss an Winterthur reist sie weiter nach London und Madrid.

Paul Strand – Fotografie und Film
für das 20. Jahrhundert
Fotomuseum Winterthur (Halle + Galerie)
Bis 17.5.2015
Di-So 11-18, Mi 11-20
www.fotomuseum.ch