Neu in den Kinos: „Emilia Pérez“ (Foto: Neue Visionen/Wild Bunch)
Peter Füssl · 06. Mär 2017 · CD-Tipp

Craig Taborn: Daylight Ghosts

Genau 54 Minuten und 44 Sekunden dauert dieser geniale, kammermusikalisch anmutende Soundtrack für einen nie gedrehten Film, dieses abwechslungsreiche, immer wieder verblüffende, genau konzipierte und dennoch mit einem hohen Maß an improvisatorischen Freiheiten ausgestattete Kopfkino, an dem uns der in New York lebende Pianist Craig Taborn teilhaben lässt. Taborns musikalischer Lebensweg hat sich mit jenem des The Bad Plus-Drummers Dave King, einem alten Freund aus den Jugendjahren in Minneapolis, sowie jenen der vielbeschäftigten New Yorker Topmusiker Chris Speed (Saxophon/Klarinette) und Chris Lightcap (Kontrabass, Bassgitarre) vielfach überschnitten – man kennt sich bestens und weiß sich wechselseitig zu Höchstleistungen anzutreiben, schöpft aus einer Vielzahl an unterschiedlichsten Erfahrungen und ist mit dem extrem spannenden, aber höchst anspruchsvollen Konzept des Bandleaders d’accord.

In den acht Eigenkompositionen und dem einzigen fremden Stück, Roscoe Mitchells „Jamaican Farewell“, das Taborn mit der AACM-Legende aus Chicago 1999 schon für ECM eingespielt hat, geht es um die für den Hörer unentwirrbare Durchdringung von Komponiertem und Improvisiertem, von Akustischem und Elektronik. Das Quartett feilt voller Kreativität und Hingabe an unverbrauchten Sounds und rhythmischem Raffinement, baut mit höchster Intensität Spannungen auf, die sich wirkungsvoll entladen, zaubert klischeefreie Stimmungen und spielt mit kurzen Stilzitaten aus der Jazz-Historie. Und all das kann sich – von lyrisch zarten Tupfern bis zur gewaltig rockenden Eruption, von dezenten Soli zu gewagten Gruppenimprovisationen – gerne auch innerhalb eines der bis zu achteinhalb Minuten langen Stücke abspielen. „Daylight Ghosts“ ist nach dem Solo-Album „Avenging Angel“ (2011) und dem Trio-Album „Chants“ (2012) erst das dritte Album Taborns für das Münchner Label und insgesamt erst sein sechstes unter eigenem Namen. In Craig Taborns musikalischer Philosophie geht es nämlich nicht um Masse und Marktstrategien, sondern um detailverliebte, aber stets das Ganze im Auge behaltende Konzepte, die niemals theoretisch oder blutleer, sondern auf seine kongenialen Kollegen und die Hörerschaft höchst inspirierend wirken. Taborn sagt nur dann etwas, wenn er auch etwas zu sagen hat. Und das hat er! (ECM/www.lotusrecords.at)