Autorin Verena Roßbacher beim "texte & töne"-Festival im ORF-Landesstudio.
Peter Füssl · 15. Jun 2015 · CD-Tipp

Tim Berne’s Snakeoil: You’ve Been Watching Me

Das in der Mitte der Platte positionierte, wohlklingende, nahezu traditionell anmutende Titelstück ist keine zwei Minuten lang, präsentiert das neue Band-Mitglied Ryan Ferreira solo an der Akustikgitarre und fällt völlig aus dem Rahmen. Denn in den jeweils drei Stücken davor und danach entfaltet Altsaxophonist Tim Berne sein reichhaltiges Spektrum an schwindelerregenden kompositorischen Ideen, die wunderschöne lyrische Ruhe ausstrahlen können, aber häufiger einem Orkan gleich durch die Gehörgänge brausen.

Ferreira ist zwar kaum einmal solistisch zu hören, als Sound- und Ideenlieferant, der dem Berne’schen Klanguniversum zusätzliche weite Räume eröffnet, aber stets präsent. Er fügt sich perfekt mit (Bass-)Klarinettist Oscar Noriega, dem sich nun auch als Elektroniker präsentierenden Pianisten Matt Mitchell und dem gleich oft am Vibraphon wie an den Drums zu hörenden Ches Smith in die seit 2012 bestehende Band Snakeoil ein. Tim Berne spielt in seinen Kompositionen virtuos mit extremen dynamischen Abstufungen, außergewöhnlichen Soundkombinationen, rhythmisch und melodisch vertrackten Überraschungseffekten und eröffnet seinen experimentierfreudigen Kumpanen damit einen anregenden Abenteuerspielplatz. Noriega und Berne glänzen zwar auch solistisch, meistens beflügelt man sich aber wechselseitig in Dialogen oder Triologen. Dieses dritte Snakeoil-Album zeigt den unorthodoxen Altsaxophonisten vor allem auch von der kompositorischen Seite her am Zenit seines Könnens, und obwohl man über ein achtzehneinhalb Minuten langes Stück wie „Small World in a Small Town“ vermutlich eine längere wissenschaftliche Arbeit verfassen könnte, steht das dem puren Hörgenuss des an Außergewöhnlichem Interessierten keineswegs im Weg.

(ECM/www.lotusrecords.at)