Neu in den Kinos: "Die Unschuld" (Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures)
Gunnar Landsgesell · 21. Jun 2012 · Film

Chernobyl Diaries

Sechs US-Touristen wollen mal kurz Katastrophe im ukrainischen Pripyat schauen. Keine gute Idee. Das gilt auch für den Film. Nach 90 Minuten haben sich zum großsprecherisch gewählten Ort Tschernobyl interessante visuelle Eindrücke, aber keine echte Idee gesellt, wovon dieser erzählen soll.

Als ein leibhaftiger (wiewohl nur generierter) Braunbär durch die devastierte Wohnung im letzten Stock des Plattenbaus läuft, atmet das Besuchergrüppchen erleichtert auf. Sie hatten nach seltsamen Geräuschen schon schlimmes befürchtet. Die „extreme tour“, die sechs junge US-Amerikaner bei einem grimmig wirkenden Ex-Militär buchten, führt sie in die Geisterstadt Pripyat. Wo einst 50.000 Menschen vom Atomkraftwerk Tschernobyl lebten, ist heute nur noch die Zeit selbst sichtbar, die seither vergangen ist. Sie hat alles hier bearbeitet: am Boden verstreute Familienaufnahmen mit Staub bedeckt, den Verputz von den Wänden gerissen, Puppen in ihre Teile zerlegt, ein Tier verwesen lassen. Nur das überdimensionierte Lenin-Mural am Plattenbau reckt sich noch gut erhalten der Kamera entgegen. Die Stimmung, die „Chernobyl Diaries“ an seinen Schauplätzen aufbaut, lässt einen nicht nur ein Stück weit jene Authentizität atmen, mit der Drehbuchautor Oren Peli sein Publikum in „Paranormal Activity“ emotional in Geiselhaft nahm. Sie verbreitet auch einen Hauch nervöser Vorahnung. Mit dem Bären ist dann alles dahin. Nicht nur, weil er eher wie Storms Schimmelreiter an den Leuten vorbeischwebt, anstatt von der verstörenden Natur zu erzählen, die sich an diesem Katastrophenort selbständig gemacht hat. Auch, weil er mögliche eigene Ängste banal verpuffen lässt. Ab dieser Szene spult Chernobyl Diaries (woher stammen bloß die Tagebücher in diesem Titel?) dann das Pflichtprogramm eines Horrorfilms ab. Ein paar Monster und Ghouls fordern ihre Menschenopfer, diese selbst verhalten sich so naiv, als hätte „Freitag der 13.“ nicht schon 32 Jahre auf dem Buckel. Einer nach dem anderen der sechs plus Tourguide verschwinden durchwegs gewalttätig aus dem Bild. Manches davon wird noch auf Handy aufgezeichnet, eine rein subjektive Kamera bleibt dem Publikum aber erspart.

Keine Idee für diese Kulisse

Als vermeintlicher Rückzug in Pripayat dient der alte Kleinbus, der natürlich den Dienst versagt, als die ohnehin nur auf zwei Stunden anberaumte extreme tour zu Ende ist. Und weil niemand flüchten will, sondern immer dem nächsten Opfer noch „zu Hilfe“ eilen will (solidarisch aber kopflos), erinnert dieser Film irgendwann an Grimms „Frieder und das Katherlieschen“, das auch einen Käseleib den Berg hinunterrollte, auf dass dieser den verloren gegangenen wieder hole. Einige US-Kritiker bemängelten, dass es eine geschlagene halbe Stunde dauert, bis der Film in Schwung kommt. Tatsächlich ist aber genau diese Phase des Films am wirksamsten. Hier verrät Chernobyl Diaries noch nichts von seinen späteren dramaturgischen Blößen und gedanklichen Irrwegen, die einen durch die Katakomben der Plattenbauten Pripyats bis in den Sarkophag selbst jagen, ohne eine Idee zu entwickeln, was über diesen Ort eigentlich erzählt werden soll. Das gilt auch für die Rolle der Armee, die Pripyat bewacht und so schemenhaft bleibt, wie sämtliche Handlungsträger. Über die Figuren selbst – hier passt dieser Begriff wirklich – gibt es übrigens nichts zu schreiben, außer dass die Jungs offenbar an zuviel Testosteron leiden, während die Frauen besonnener sind. Immerhin. Aber draufzahlen tun sie alle.