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Gunnar Landsgesell · 19. Feb 2015 · Film

Selma

Vom Staub der Geschichte keine Spur: "Selma" überrascht mit einem hochaktuellen Drama über die Bürgerrechtsbewegung, die 1964 den Civil Rights Act erzwang. Afroamerikanern sollten damit nicht länger von Wahlen ausgeschlossen sein. Ava DuVernay sorgte mit ihrer frechen Interpretation des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson für Aufregung. Spannend.

Vom Staub der Geschichte keine Spur: Ava DuVernays „Selma“ entwirft das zwingende Portrait einer Bürgerrechtsbewegung, die in Alabama 1964/65 mehrere Märsche organisiert, um das Wahlrecht für Afroamerikaner auch im Süden durchzusetzen. Ursprünglich als Two-hander, als Zweipersonenstück zwischen US-Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) und Nobelpreisträger Martin Luther King (überzeugend, stark: David Oyelowo) geplant, hat die smarte Kalifornierin DuVernay gegen einige Widerstände das Drehbuch um einige Fronten erweitert. White Supremists wie Alabamas Gouverneur George Wallace (Tim Roth) sowie der FBI-Chef setzen Hebel in Bewegung, um King privat zu diskreditieren. Das gefälschte Tonband soll King und seine Ehefrau Coretta (Carmen Ejogo) auch in private Troubles stürzen. Auch Malcolm X, die längste Zeit der politische Gegenspieler von King, bekommt einen Auftritt, in dem er der beunruhigten Coretta erklärt, er sei deshalb hier, um den Feinden zu zeigen, was sie erwartet, wenn sie Kings Forderungen nicht erfüllen. Vor allem zeichnet DuVernay aber das Bild eines Civil Rights Movements, das aus divergierenden Interessen und Kräften besteht. Die jungen Wilden, die Zweifler, die Radikalen, die Besonnenen – alles Stimmen, die sich zu einem überraschend zeitgemäßen Bild zusammenfügen. Auch wenn DuVernay, die selbst im Stadtteil Compton in Los Angeles aufgewachsen ist, wo viele der „Gangster-Rapper“ herstammen, die Namen jüngst ermordeter schwarzer Bürger nicht einblendet, wie das Spike Lee als Regisseur wohl getan hätte – sind die aktuellen Bezüge des Films evident. Mit „Selma“ wird das Drama eines gesellschaftlichen und ökonomischen Ausschlusses erzählt, der bis heute aufrecht ist.

Freche Demontage

So gesehen lag es nahe, Johnson und King als Antagonisten antreten zu lassen. An der Darstellung Johnsons entzündete sich auch prompt eine Debatte, und auch einen selbst als Zuseher irritiert die Rolle dieses amerikanischen Präsidenten. Eigentlich gilt der hemdsärmelige Texaner, der vom intellektuellen Teil der Demokratischen Partei als derb geschmäht wurde, als Held. Er hatte mit dem Civil Rights Act 1964 und dem Voting Rights Act 1965 durchgesetzt, wozu vor ihm JFK der Mut und der Nachdruck fehlten. Johnson riss die „Rassen“schranken im alten segregierten Süden gesetzlich nieder, was die Rassisten mobilisierte. In „Selma“ fällt Johnson hingegen durch sein Zaudern auf. Tom Wilkinsons schlaffe Backen wackeln, wenn er als Präsident fürchtet, zwischen FBI und King zermahlen zu werden. Sie haben als Aktivist eine Agenda, aber ich habe Hundert, wirft er King aufgebracht vor. DuVernay entgegnete auf die Kritik, dass sie eben ihre Sicht der Dinge darstellt. 20 Jahre lang hätte Johnson zugunsten der Segregation gemauert. Erstaunlich ist aber vor allem, wie die 42-Jährige in ihrem vierten Spielfilm die Tonarten wechselt: von Momenten ungemeiner Privatheit, in der Coretta und Martin geradezu intim wirken, über die Dimension des Aufbruches bis zu jenen Augenblicken der Gewalt, die DuVernay nicht ausspart, findet sich hier das ganze Kaleidoskop einer Zeit, in der die Spannung nicht weicht. Ein pflichtschuldiges Portrait eines Ereignisses, das die Geschichte umschrieb, hätte es werden können, auch die – nie verfilmte – Hommage an Martin Luther King. Geworden ist es ein Thriller zwischen den Kleinstädten Selma und Montgomery, der die Verletzlichkeit von Menschen in eindrücklichen Bildern zu gestalten vermag.