Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Peter Niedermair · 26. Dez 2014 · Gesellschaft

„Lingg, Du bist a Schwoarza und I bin a Rota. Aber wir machen das Gleiche.“ – Über Entwicklungen in der Psychiatrie. Ein Resümee mit Primar Albert Lingg

Albert Lingg leitete über viele Jahre die Psychiatrie am Landeskrankenhaus Rankweil. Anlässlich seiner Pensionierung führte Peter Niedermair mit ihm für die KULTUR das folgende Gespräch.

Hast Du den Eindruck, dass sozialpsychische Krankheiten in den letzten Jahren zugenommen haben? Gibt es dazu empirische Evidenz?

Diese Frage wird auch in seriösen Fachkreisen in Zeitschriften kontrovers diskutiert, weil es um den Maßstab, den ich anlege, geht. Was heute als gestört oder krank angesehen wird, war früher nicht so klassifiziert. In neuen Klassifizierungsschemata, wie der DSM5, sieht man die eindeutige Tendenz zur Ausweitung. Der Krankheitsbegriff wird inflationär gebraucht, bis hin zur Erfindung neuer Krankheiten. Das hat natürlich immer auch mit denen zu tun, die dahinter stecken, die Pharma-Industrie und andere Profiteure, die versuchen, das in diesem Sinne zu beeinflussen.

Geht das Hand in Hand mit der Vernaturwissenschaftlichung der sozialpsychiatrischen, medizinisch-gesellschaftlichen Entwicklung, dass schneller kategorisiert wird?

Einerseits müssen wir froh sein über diese Klassifikationssysteme. Bis vor 30 Jahren hat man die Psychiatrie noch als sehr spekulativ angesehen, da konnte es sein, dass man z.B. die Schizophrenie in Österreich, Deutschland, Frankreich oder anderswo ganz unterschiedlich diagnostiziert und mitunter auch behandelt hat. Mit diesen internationalen Klassifizierungsmodellen hat sich das gebessert, mit dem Nachteil, dass man dadurch auch einiges verloren hat. Die frühere ätiologische Ordnung, dass man versucht hat zu sehen, was ist lebensgeschichtlich, was ist eher biologisch oder unbekannt endogen, ist damit in die zweite oder dritte Ordnung gestellt worden. Das ist auch eine Gefahr.

 

Der Imperativ des Glücks

 

Der Imperativ des Glücks behauptet, es darf keine Angst mehr geben, es darf auch keinen Anderen mehr geben. Was sind psychiatrisch gesehen dazu die aktuellen Themen in Vorarlberg?

Dazu zählt in Vorarlberg die Leistung, gehöre ich dazu, bin ich dabei, komme ich noch mit. Daraus entstehen Erschöpfungszustände, die oft im Sinne einer Selbstbehandlung mit Medikamenten, Alkohol, kompensiert werden, bis das dann zum Teil das Hauptproblem wird, hinter dem man die ursprüngliche Problematik gar nicht mehr findet. Das Zwanghafte spielt heute weniger eine Rolle, eher die Haltlosigkeit vieler Menschen, Haltlosigkeit im Sinne von Bindungsnot,  vor allem bei Jugendlichen. Die affektive Verwahrlosung oder soziale Anpassungsstörungen sind heute mit die häufigsten Diagnosen bei Jugendlichen geworden.

Du warst am Beginn Deiner beruflichen Laufbahn der allerjüngste Primararzt. Wie hat sich in Deinem Blick zurück die Psychiatrie in diesen vielen Jahren bis jetzt zu Deiner Pensionierung verändert?

Sie hat einen unglaublichen Wandel hinter sich gebracht. Ich bin dankbar, dass ich genau diese Zeit erwischt habe. Natürlich gab es viel zu tun, es lag viel in der Luft, es war die Zeit der Reformen, in Deutschland etwas vor uns, in Österreich wie öfters verzögert, einerseits die Auflösung der Asylpsychiatrie, also der Menschen, die hospitalisiert gelebt haben. Als ich gekommen bin, habe ich eine Abteilung mit fast 300 Betten übernommen, wovon 240 Asylanten waren, also nicht politische Asylanten, sondern Langzeitpatienten. Heute sind es noch fünf, die nicht anderswo leben können. Die Enthospitalisierung der Menschen mit intellektueller Behinderung, mit chronischen Psychosen war ein großer Auftrag, manche sind einfach vergessen worden, niemand hat sie mehr reklamiert. Es war die Zeit der Öffnung, früher waren alle Stationen geschlossen und getrennt geschlechtlich geführt, da war Kollege König maßgeblich initiativ, so dass wir die erste Anstalt in Österreich waren, die komplett geöffnet war.

 

Öffnung der Systeme

 

Stichwort für diese Öffnung, zum Teil auch für die Politisierung der Psychiatrie, war Franco Basaglia, der auf die katastrophalen Zustände in den italienischen sogenannten „Irrenanstalten“ hinwies, die daraufhin geschlossen wurden. Hat man hier in Vorarlberg von den internationalen Erfahrungen profitiert, war der Boden reif für Veränderung?

Die Ausgangslage für Basaglia war eine andere, weil in Italien viel mehr Leute hospitalisiert waren, man hat sicher dort einiges abgeschaut und gesehen, dort, wo Alternativen angeboten wurden, ist es gut gegangen. In südlichen Teilen Italiens ist es eher danebengegangen, was man auch als Lehre nehmen konnte. Ich selbst war auch sehr beeinflusst, war viel im Ausland, in Holland, und habe frühzeitig gesehen, dass es auch eine andere Psychiatrie gibt. Mit anderen zusammen haben wir versucht unsere Situation hier in diese Richtung zu lenken. In Wien war damals Stephan Rudas, der zu mir einmal sagte ‚Lingg, Du bist a Schwoarza und i bin a Rota, aber wir machen dasselbe‘. Das war für mich wie ein Kompliment, es hat auch geheißen, dass in Vorarlberg eine sehr fortschrittliche Sozialpolitik möglich war.

An die Stelle der geschlossenen Systeme trat das Offene, die Dezentralisierung, das Integrieren in die Gemeindeverbände und die ambulanten Angebote, die damit priorisiert wurden. Wo stehen wir heute auf dem Weg der Deinstitutionalisierung?

Die ist weit fortgeschritten. Wir haben damals eine Art Kuhhandel gemacht, ich konnte mit dem Land so verhandeln: wir schließen Stationen und dafür müssen draußen Wohngruppen und sozialpsychiatrische Teams kommen. Wir haben mit den niedergelassenen Kollegen kooperiert und viel in Bewegung gesetzt. In Vorarlberg ist man immer den Weg der Subsidiarität gegangen, das heißt, jemand soll ein Problem aufgreifen, die Lösung entwickeln und dann wird das Land das unterstützen, mit der Folge, dass sich sehr viel Gutes entwickelt hat, aber mit dem großen Nachteil, dass es eine Fülle von Trägern gibt, einen Dschungel von Diensten gibt, wo der Nutzer und die Angehörigen Bescheid wissen sollten, wo man sich hinwenden kann.

Du hast sehr bald auch die Palette der angebotenen Therapieformen im Landeskrankenhaus Rankweil erweitert.

Ich habe gleich einmal Musik- und Tanztherapie eingeführt, das war mir wichtig. Das hat sich sehr gut bewährt und gehalten. Die Kreativtherapie hatte schon Kollege König begonnen, der sich maßgeblich dafür einsetzte. Im Kleinen gibt es das natürlich in vielen Bereichen, bei Pro Mente z.B., beim AKS, wo kreative Leute arbeiten.

 

Zeitgeist und psychische Krankheiten

 

Unterliegen psychische Krankheiten bestimmten Moden? Wie ist es mit dem Zeitgeist, vor allem wenn wir an Kinder und Jugendliche und besonders auch an alte Menschen denken?

Wenn man die Psychiatriegeschichte zur Kenntnis nimmt, gibt es Krankheiten, die sich wie ein roter Faden durchziehen und relativ konstant bleiben, andere sind eindeutige Zeitkrankheiten. Essstörungen waren eine Zeitlang noch prominenter als heute, die Magersucht auch, das erleben wir jetzt mit den Borderlinern, die wir früher nicht kannten. In meiner Ausbildungszeit gab es Borderline nicht, es gab weder die Diagnose noch diese Art sich auszudrücken, es gab sicher diese Störung, aber sie hat sich damals anders gezeigt. Heute braucht es offenbar einen noch stärkeren Appell, etwas Exhibitionistisches, um sich entsprechend Hilfe zu holen. Ich finde auch diese Selbstbeschädigungen spannend, die in der Psychiatrie ein Phänomen sind, die auch eine Entsprechung in der Kunst haben, wenn ich etwa an unseren Künstler Flatz denke, oder an andere Leute, die noch weiter gehen, und die exzessiven Tätowierer. All das ist ein Ausdruck unserer Zeit. Ich hätte gerne einmal mit Wolfgang Flatz etwas veranstaltet. Im Alter ist für mich Loneliness im Moment, neben der Demenz, das größte Problem. Und da ist die Vorarlberger Krankheit, man sollte aus einem zu großen Haus auszuziehen und sich eine Alternative suchen, wo man auch Gesellschaft hat.

Wenn man sich diesen medizinisch-psychiatrischen Diskurs anschaut, was glaubst Du ist der Einfluss der sozialen Herkunft?

Der ist fraglos vorhanden. Das kann man bei gewissen Gruppen auch studieren, bei Migranten und Randgruppen, die wesentlich häufiger krank sind. Umgekehrt führt psychische Krankheit oft zu sozialen Problemen. Man muss immer schauen, was ist die soziale Drift. Sicher wäre dort mit Sozialarbeit sehr viel zu holen, die bei uns noch unterentwickelt ist. Nicht nur in der Psychiatrie, sondern im gesamten Medizinalwesen, wenn wir denken, was wir investieren, oft auf allgemein-medizinischen Stationen, um jemanden wieder auf die Beine zu bringen, der nach Hause geht und die Situation ist nicht so, dass er den Mut oder die Möglichkeit hat, allein weiterzumachen, und das nicht klappt. Dann ist die Rezitivrate entsprechend hoch.

 

Gesellschaft und Sucht

 

Man hat den Eindruck, dass viele Menschen unter starkem sozialem Druck stehen. Wo siehst Du die Ursachen, wie kann man ein Bewusstsein dafür schaffen?

Bei einem Referat kürzlich, wo es um Sucht ging, bin ich zuletzt in sehr wirtschaftspolitische Fragen hineingeraten und hab dann gemeint, dass unsere Wirtschaft letztlich schon Suchtcharakter hat und die ganze entzügelte Wirtschaft eine große Entzugserscheinung ist, dass diese Sucht nach mehr letztlich schon ein Phänomen ist, wo dann der einzelne Süchtige ein Teil davon ist. Es gibt heute sehr viele Verhaltenssüchte, die einen, wo man sich etwas einverleibt, die anderen aber, von der Konsumsucht angefangen über alle Freizeitsüchte, sind ein Riesenproblem, da ist man auf einem schwierigen Trip. Das zu ändern, und man könnte den guten alten Frankl wieder hernehmen, der all das schon lange vorausgesagt hat, dass der Mensch oft zu kurz kommt, wenn er den Sinn nur dort sucht.

Wäre es da nicht angebracht, über diese Themen medizinal-psychiatrische Aufklärung zu betreiben?

Da sind wir sicher zu leise, oder zu faul. Auf diesem Gebiet ist der Dowas-Geschäftsführer Michael Diettrich ein gutes Beispiel, der meldet sich regelmäßig, das imponiert mir. Aber an sich hast Du mit Deiner Frage vollkommen recht, man müsste wesentlich schärfer hineingehen, und ich frage mich selber, wenn ich mich da schwach und feige fühle, wo ist da mein Platz. Attac, das globalisierungskritische Netzwerk, die sind zum Teil die Einzigen, die wirklich einmal sagen, wo es fehlt.

Mit Georg Theunissen kooperierst Du seit vielen Jahren im Bereich der psychischen Störungen und geistigen Behinderungen, in einem sehr sensiblen Feld der psychiatrisch-heilpädagogischen Übergänge. Wo steht dieser Diskurs heute?

Da hatten wir eine sehr schwierige und bewegte Zeit, weil natürlich das gegenseitige Vertrauen zuerst nicht da war. Die Heilpädagogen haben uns Psychiatern unterstellt, wir können eh nur die Leute niederspritzen, und umgekehrt haben unsere Leute gesagt, die werden mit diesen Menschen, die wir dann enthospitalisieren, nie fertig, weil sie zu krank sind.  Dann hat sich doch gezeigt, dass das Zurücknehmen der Psychiatrie und das Organisieren anderer Lebensräume unglaublich viel bringt, allerdings die Psychiatrie sich nicht ganz zurückziehen darf, sondern sich im Sinne der Konsiliarbetreuung weiter einbringen muss. Inzwischen ist es eine sehr konstruktive Auseinandersetzung geworden, weg von der Ideologie jeweils, hin zur Pragmatik.

Ein wichtiges Feld vor allem mit Deinem Kollegen Reinhard Haller sind die Suizidstudien, wie ist hier der Status quo?

Mitte der 80er Jahre hatten wir eine sehr schwierige Ausgangslage. In den Medien hat man zum Teil behauptet, Vorarlberg sei Weltmeister in Sachen Suizid. Haller und ich haben begonnen jährlich eine Studie zu machen, die übrigens bewiesen hat, dass wir nie Spitzenreiter waren und sie hat mit vielen Vorurteilen aufgeräumt und das Thema auf eine sachliche Ebene gestellt. Inzwischen ist es zu einer Halbierung der Suizidziffer gekommen. Das hat sicher mit der Enttabuisierung zu tun, mit den Hilfestellungen, die es gibt, und mit den besseren Behandlungsmethoden, und vor allem, dass die Leute sich nicht verstecken und schämen, und es bis aufs Letzte draufankommen lassen.

Was die psychiatrische Grundversorgung anbelangt, welche großen Fragen, mit einem Fokus auf unser Land, liegen vor uns?

Die große Sorge ist der Ärztemangel und bald auch der Psychologenmangel. Österreich hat laut OECD-Zahlen mit Griechenland am meisten Ärzte, die aber schlecht verteilt sind. Da müsste eine neue Ordnung geschaffen werden. Nur ist das schwierig, weil jeder seine Pfründe verteidigt, das ist ein heißes Eisen. Was die Psychiatrie betrifft, hat Hubert Schneider von Beginn an sehr darauf geachtet, dass wir Institutionen viel besser betreuen sollten, psychologisch, sozial, die Brennpunkte. Männerheime und Gefängnisse sind teils gut betreut, andere, die fast Psychiatrien sind, bräuchten mehr Unterstützung, auch viele Sozialzentren.

 

Kulturelles Gedächtnis


Mit der Verarmung geht also schleichend ein Prozess der Psychiatrisierung einher. Ein großes Anliegen war und ist Dir die Aufarbeitung der NS-Euthanasie. „Gegen das Vergessen“.

Zur NS-Euthanasie hat Hubert Schneider von sich aus viel gearbeitet, vor allem mit Gernot Egger. Ich halte sehr viele Vorträge zu diesem Thema und bei jeder Ausbildung, sei es Schloss Hofen, in der Krankenpflegeschule, das Thema ist ein wichtiger Bestandteil. Ich stelle immer Primo Levy voran, der sagte, „es ist geschehen und deshalb kann es wieder geschehen“. Dann präsentiere ich die Kasuistik eines Kindes, das drangekommen ist und verweise auch auf Beispiele, wo jetzt auch zunehmend die Städte und Gemeinden, gerade im Bregenzerwald interessante Projekte machen, um dieses Thema lebendig zu halten. Es ist mir eine Sorge, wenn Hubert Schneider nicht mehr am Krankenhaus ist, wer das weiter macht.

Eine persönliche Frage zum Schluss. Du hattest immer eine interessante Parallelwelt als Musiker und großer „Rolling Stones“-Fan. Wirst Du Dich jetzt verstärkt der Musik widmen?

Na gut, als Musiker bin ich eher ein Dilettant, ein begeisterter Dilettant. Ich habe sehr liebe Freunde, die Musiker sind. Wir hatten vor kurzem ein Abschiedskonzert, mit großem Anklang  und sehr schöner Stimmung. Jetzt werden wir uns vor Weihnachten einmal treffen und uns überlegen, ob und wie es weitergeht. Solange die richtigen „Stones“ noch spielen, sollte man dranbleiben. Das ist fast ein kultureller Auftrag.