Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Kurt Greussing · 23. Dez 2014 · Gesellschaft

Orthodoxe gegen Ultra-Orthodoxe: Islamische Theologen gegen den „Islamischen Staat“

Für einige Tage war der „Islamische Staat“ vor unserer Haustür: Mitte September beherrschte das Thema kampfbereiter Sympathisanten der mittelöstlichen Terrormiliz die Titelseiten der „VN“ und die Nachrichtensendungen von Rundfunk und Fernsehen. Vier Dschihadisten sollen es schließlich gewesen sein, die Vorarlberg Richtung Syrien verließen – allesamt keine österreichischen Staatsbürger, wie erleichtert festgestellt wurde. Inzwischen ist es um den Vorarlberger Dschihadismus medial wieder völlig ruhig geworden, was allerdings kein Grund zur Beruhigung sein muss. Denn die Stimmung unter einigen Hundert oder Tausend migrantischstämmigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist erregbar, wie die große Gaza-Demonstration in Bregenz am 20. Juli dieses Jahres gezeigt hat.

Entwarnung wurde an einer anderen Front gegeben: der religiösen. Denn der militante Dschihadismus habe nichts mit Islam zu tun. Der Vertreter der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Vorarlberg und Fachinspektor für den islamischen Religionsunterricht, Abdi Taşğen, wusste zu berichten, er kenne keinen einzigen jungen Dschihadisten oder dessen Familie, war sich aber sicher, es handle sich um randständige traumatisierte Jugendliche, die mit Religion nichts am Hute hätten („VN“, 19.9.2014). Die neue Islam-Beauftragte der Diözese Feldkirch, die Theologin Ursula Rapp, erklärte dem ORF (25.10.2014), „den Islam” als solchen gebe es nicht, was sie aber nicht hinderte zu meinen, „der Islam” sei keine gewalttätige Religion. Und für den aus Vorarlberg stammenden Politologen Thomas Schmidinger steht fest, dass die österreichischen Jung-Dschihadisten vorher „oft gar nicht muslimisch” waren oder „sehr wenig mit dem Islam als Religion” zu tun hatten. Alles kommt aus heiterem Himmel: „Sie radikalisieren sich von null auf hundert” („VN“, 13.9.2014).

 

Entwarnung – religiöse Analphabeten?


Es wäre natürlich, übrigens auch für Journalisten, angebracht zu fragen, wie groß die Zahl der interviewten Personen war, die diesen und anderen Fachleuten zu ihren jeweiligen Einsichten verholfen haben. Und selbst wenn es stimmen sollte, dass die jungen Dschihadisten wenig Ahnung von islamischer Theologie haben, also gleichsam religiöse Analphabeten sind – was besagt es? Muss man theologisch gebildet sein, um Anhänger des „Islamischen Staates“ zu werden? Muss jemand Hitlers „Mein Kampf“ oder Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gelesen haben, um sich als überzeugter Neonazi zu betätigen. Um zum radikalisierten Islamisten zu werden, genügt ein beschränktes, aber gezieltes Angebot. Für die narzisstische Selbsterhöhung und das Ego-Boosting sorgt eine religiöse Ideologie, die sich als allen anderen Weltanschauungen und Religionen weit überlegen erklärt und Gott selbst als Autor reklamiert. Diese Ideologie erlaubt, ja verlangt es, die Freiheits- und Lebensrechte all jener, die ihr nicht anhängen oder ihr entgegentreten, zu verneinen. Man muss diese Andersdenkenden oder Gegner unterwerfen, notfalls mit Gewalt und Krieg. Die Ideologie ermöglicht eine Teilung der Welt und der Menschen in „Rein“ und „Unrein“, „Gläubig“ und „Ungläubig“. Und am Schluss winkt eine gerechte, von Konflikten gereinigte Gesellschaft, falls man nicht vorher das Leben für den großen Zweck geopfert und die ultimative Selbsterhöhung im Heldentod gefunden hat.

 

Kampf-Theologie statt radikaler Reform

 

Es ist zu einfach, in derartigem totalitären Radikalismus lediglich ein psychologisches Problem zu sehen und damit die interessenleitende Ideologie auszuklammern. Denn die Frage ist schlicht: Warum begnügen sich solche Menschen, meist junge Männer, nicht mit Schlägereien beim Fußballmatch Simmering gegen Kapfenberg (Travnicek: „Das nenn‘ i Brutalität“), sondern wollen im Mittleren Osten für die Errichtung des Kalifats kämpfen? – Eben weil ihnen eine eigene handlungsleitende religiöse Weltanschauung zur Verfügung steht. Unter den konkreten Umständen ist es eine islamische Kampf-Theologie, die keineswegs eine Neuerfindung darstellt, sondern sich aus dem reichen Fundus der herkömmlichen islamischen Orthodoxie bedient.

Ausgerechnet ein österreichischer Muslim hat diesen Sachverhalt ungeniert ausgesprochen und damit in die Suppe der islamschonenden Erklärungen gespuckt: Ednan Aslan, Professor für islamische Religionspädagogik an der Universität Wien. Auf die Frage: Wie definieren Sie „islamischer Staat“? antwortete er kurz und schmerzhaft: „Ein Staat nach islamischem Recht, wie ihn IS-Chef al-Baghdadi gern hätte.“ Auf die Zusatzfrage: Inklusive Scharia, Kalifat, des Heiligen Krieges, Steinigung etc.?“ kommt ein schmuckloses „Ja“ („Die Presse“ online, 26.9.2014). Denn alles, was der IS mache und fordere, sei theologisch richtig und komme in allen Grundwerken des Islam vor. Ein Kalif müsse den Islam auch mit Gewalt verbreiten und sollte dazu mindestens einmal im Jahr Krieg führen. Die österreichischen Islamverbände und deren Zentralinstitution, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ – www.derislam.at), hätten ihrerseits, so Aslan, diese Kriegstheologie nie durch die Entwicklung liberaler, friedensorientierter Konzepte überholt und überwunden, sich also nie von den klassischen Normen für eine anzustrebende islamische Ordnung distanziert.

Stimmt nun der Vorwurf Aslans, die IGGiÖ verharre auf den Positionen der islamischen Orthodoxie? – Nicht ganz, aber weitgehend.

 

Der All-inclusive-Islam


In den Glaubensgrundsätzen, die die IGGiÖ 2011 veröffentlicht hat (http://tinyurl.com/IGGiOe-Klarstellung), werden die Tore weit in Richtung der traditionellen orthodoxen Rechtsvorstellungen geöffnet: „Die Existenz von Rechtsschulen wird … als selbstverständlich vorausgesetzt. … Jede Rechtsschule spiegelt authentisch den Islam wider.“ Dieser Bezug auf die Rechtsschulen bedeutet, dass das gesamte traditionelle islamische Rechtsdenken zur legitimen Norm des individuellen und gesellschaftlichen Lebens erklärt wird. Die Rechtsschulen haben die Frucht ihrer Arbeit in Lehrbüchern für Studierende und in Kompendien für Richter niedergelegt, die heute zunehmend in europäische Sprachen, etwa ins Englische, übersetzt werden, um diese Normen auch für Gläubige hier verbindlich zu machen. Verwiesen sei etwa auf die umfangreichen Manuale von al-Misri oder al-Quduri: Sie enthalten alles, was für das islamische Leben verbindlich sein soll – von Reinigungs- und Ritualvorschriften bis zu Bestimmungen des Erb- und Strafrechts.

Wo der Traditionsbestand der Rechtsschulen nicht gleich weiterhilft, gilt für die IGGiÖ:  "Die gläubigen Muslime orientieren sich, wenn es um Antworten der Religion auf neue und aktuelle Fragestellungen geht, an der Meinung der Gelehrtenkollegien in den traditionsreichen Gelehrtenstätten der islamischen Welt" – und dann kommt kein einziges Wort der Kritik an den Meinungen ebensolcher Gelehrtenkollegien, die neben anderem die Todesstrafe bei Abfall vom Islam, die barbarischen Körperstrafen bei Diebstahl und „Unzucht“ oder die mindere Rechtsstellung von Nicht-Muslimen (z.B. in Sachen Eignung zum Richteramt oder Zeugenschaft vor Gericht) befürworten und als islamisch sanktionieren. Dass laut diesen Glaubensgrundsätzen der IGGiÖ letztlich das eigene Gewissen der Gläubigen als oberste Instanz zu gelten habe – das freilich ist eine Neuerung, die dann doch wieder den Anschluss an die Idee des religiös selbstverantwortlichen und frei entscheidenden Individuums ermöglichen soll.

Die IGGiÖ versucht also, wie auch andere Islamverbände und islamische Theologen im Westen, einen Spagat, der schon beim Zuschauen einen Leistenbruch verursachen könnte. Alle sollen unter dem Dach der Glaubensgemeinschaft Unterschlupf finden: der saudische Wahhabit, der sich beim Schlagen der Ehefrau und beim Steinigen auf die hanbalitische Rechtsschule beruft, ebenso wie der türkische Hanafit, der die Apostasie einer Frau nicht wie die eines Mannes mit dem Tod, sondern nur mit Gefängnis bis zum Widerruf des Abfalls vom Glauben bestraft sehen möchte (diese Rechtsschule gilt als „liberaler“!), bis eben zum islamischen Freigeist, der sich seines Gewissens bedienen darf – solange er seinen orthodoxen Glaubensbrüdern nicht die Meinung sagt. Denn ein solches System des „All-inclusive“ kann nur funktionieren, wenn alle alles akzeptieren und keine Konflikte ausgetragen werden. Das entspricht durchaus der Tradition der meisten islamischen Theologen, auch solcher in Europa und den USA, nur ihre eigenen Positionen darzulegen, aber gegnerische nicht direkt zu kritisieren, um auf diese Weise die Einheit der „Umma“, der weltweiten islamischen Gemeinschaft, zu wahren.

 

Schweigen und Offener Brief


Wie geht nun die IGGiÖ mit dem „Islamischen Staat“ um? – Er wird als verbrecherisch abgelehnt und unmissverständlich als Terrororganisation gebrandmarkt, doch eine theologische Auseinandersetzung bleibt aus. „Wir vermeiden es, IS mit religiösen Argumenten abzuqualifizieren und zwar nicht, weil wir diese nicht hätten, sondern weil wir ihnen mit dem Einstieg in theologische Dispute keinen Anlass zu ihrer Aufwertung geben möchten“, heißt es in einer Erklärung vom 21.8.2014. Dennoch wäre eine theologische Positionierung aufschlussreich gewesen, nämlich für die Führungsmannschaft der IGGiÖ selbst. Sie hätte sich angesichts einer brandschatzenden, versklavenden, enthauptenden Soldateska unter dem Banner des Propheten zum Erbe ebenjener Rechtsschulen äußern müssen, die ihr als „authentische Widerspiegelung des Islam“ gelten.

Andere haben der IGGiÖ diese Aufgabe abgenommen: über 120 Rechtsgelehrte aus der ganzen Welt, vor allem aus islamischen Ländern. Sie haben einen „Offenen Brief“ an al-Baghdadi, den selbsternannten Kalifen des „Islamischen Staates“, gerichtet (www.lettertobaghdadi.com). Diese mehr als ein Dutzend A-4-Seiten starke Epistel enthält alles, was die orthodoxe islamische Theologie gegen den IS aufzubieten hat. Der Brief ist aber vor allem eine höchst aufschlussreiche Selbsterklärung eben dieser Orthodoxie, von der beispielsweise die IGGiÖ nicht lassen möchte.

Die unter dem Brief versammelten Theologen sind ohne Zweifel der Ansicht, dass sich der von ihnen höflich mit „Doktor“ angesprochene Baghdadi (er hat ein Theologiestudium absolviert) schwerster Verbrechen schuldig gemacht hat. Demgegenüber halten die Gelehrten mit einem erheblichen Aufwand an Koran- und Hadith-Zitaten daran fest, dass der Islam die Tötung Unschuldiger, die Ermordung  ausländischer Botschafter und Entwicklungshelfer, die Folterung Gefangener und die Totenschändung von Gefallenen, Misshandlung von „Leuten der Schrift“ (traditionell Juden und Christen – nun aber auch ausdrücklich Jesiden), Zwangsbekehrungen oder die Schändung von Prophetengräbern verbiete.

Doch die Gegenpositionen, die im Namen der Tradition und des „wahren Islam“ bezogen werden, erweisen sich in wesentlichen Punkten nur als eine mildere Variante des „Islamischen Staats“. So wird ausdrücklich betont, für Muslime bestehe die Pflicht, (wieder) ein Kalifat zu errichten – nur müsse das die gesamte Umma machen und es könne sich nicht eine kleine Gruppe dieses Recht anmaßen. Die islamischen Gesetze dürften nicht abrupt, sondern nur graduell im Einklang mit den lokalen Kulturen und Traditionen durchgesetzt werden. Ziel freilich sei die Umsetzung des islamischen Strafrechts, notabene der Körperstrafen (Todesstrafe, Auspeitschung, Verstümmelung …), doch müsse dies mit den entsprechenden Verfahren geschehen, die „Gerechtigkeit und Milde“ garantierten.

Zur Frage des Dschihad wird alles an Zitaten aus Koran, Hadithen und den autoritativen Werken der Rechtsschulen aufgeboten, was den militärischen Kampf nur als defensiven legitimiert. Doch dem steht das Faktum gegenüber, dass eben diese Rechtsschulen selbst die Regel erfunden haben, wonach die Ungläubigen vom islamischen Herrscher einmal im Jahr mit Waffengewalt bekämpft werden müssen und dass Waffenstillstände von muslimischer Seite nach Nützlichkeitserwägungen gebrochen werden dürfen.

Auch die Erklärung zur Sklaverei wird die Dschihadisten nicht beeindrucken. Seit einem Jahrhundert bestehe unter Muslimen ein Konsensus, dass sie abgeschafft und verboten sei, heißt es in dem Brief. Doch mit ein paar Mausklicks wird der Kämpfer für das Kalifat herausfinden, dass es mit diesem Konsensus nicht so weit her ist. Nach traditioneller islamischer Rechtslehre ist Versklavung nur durch Gefangennahme in einem Krieg erlaubt; und versklavte Frauen müssen ihren Herren beliebig oft und in beliebiger Zahl zum Sex zur Verfügung stehen (unter Bezug auf Koran 4:24: „Und verwehrt sind euch verheiratete Frauen außer denen, die ihr von Rechts wegen besitzt“ – darunter werden von fast allen Theologen Sklavinnen verstanden). Dass auf prominenten saudi-arabischen Fatwa-Websites allen Ernstes notgeile Jungmuslime darüber belehrt werden, dass Sklavinnen nicht einfach durch Umwidmung einer Haushaltshilfe, sondern nur im Krieg gegen die Ungläubigen gewonnen werden dürfen, hält das Thema jedenfalls theologisch aktuell (http://islamqa.info/en/26067; siehe auch 12562).

 

Trockenlegung des Biotops


Das einzig Gute, das der „Islamische Staat“ bringen könnte, ist Bewegung in die innerislamische Auseinandersetzung um eine neue Theologie. Der „Islamische Staat“ ist die Nemesis des unentschiedenen Islam im Westen. Denn der IS befördert all das zu Tage, vor dessen Klärung sich die traditionellen Islamverbände gedrückt haben, weil sie die Einheit der Umma und das Appeasement mit der Orthodoxie über eine klare theologische Positionierung in menschenrechtlich relevanten Fragen stellten. Die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxen und radikalen Reformern ist schon seit längerer Zeit im Gange, in Westeuropa und den USA ebenso wie in islamischen Ländern mit einem einigermaßen offenen Publikationswesen. Hier seien nur Namen von Theologen und Intellektuellen wie Yaşar Nuri Öztürk, Mustafa Akyol, Mouhanad Khorchide, Abdullah Saeed oder Tarek Fatah genannt.

Dass diese theologische Debatte  unmittelbare Auswirkungen auf gewaltbereite junge Dschihadisten haben wird, ist nicht anzunehmen. Bei ihnen wird es, wie im Umgang mit dem gewalttätigen aktuellen Rechts- und dem vergangenen Linksextremismus, eher gute Aufklärungs- und solide Polizeiarbeit brauchen.

Genauso entscheidend  werden aber die ganz normalen Muslime sein. Sie in Geiselhaft für die orthodoxen Theologen und die jungen Dschihadisten zu nehmen, wäre absurd. Warum sollten sie sich für etwas rechtfertigen, was sie selbst, im Gegensatz zu den Theologen, weder kennen noch vertreten? Doch sie werden andererseits kaum als Unbeteiligte zusehen können, wie sich Jugendliche religiös radikalisieren. Indem sie deutlich machen, dass es für den Dschihadismus keine Sympathien, auch keine klammheimlichen gibt, legen sie das Biotop trocken, in dem die Phantasien des revolutionären Stellvertreter-Handelns der Dschihadisten gedeihen. Das immerhin könnten sie besser machen als damals, in den 1970ern, viele Linke mit ihrem halb- bis treuherzigen Verständnis für die mörderischen Motive der RAF.

(Dieser Artikel ist zuerst in der Print-Ausgabe der KULTUR-Zeitschrift Nr. 10/2014 erschienen.)