„Kindheit, Jugend und Familie in Vorarlberg 1861 bis 1938“ – Ein dunkles Kapitel der Vorarlberger Geschichte
„Die katholische Kirche allein kann den wahren, rettenden und alle beglückenden Conservatismus in der Welt feststellen.“ (Vorarlberger Volksblatt vom 6.8.1872)
Eine für die Vorarlberger Geschichtsforschung weitere Bereicherung stellt die Publikation Kindheit, Jugend und Familie in Vorarlberg 1861 bis 1938 vom bekannten Historiker Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Wanner und dem Diplompädagogen Johannes Spies dar. Im Auftrag des Vorarlberger Kinderdorfs beforschte Wanner den soziokulturellen Hintergrund in Vlbg. zwischen 1861 bis 1938 und Spies die institutionalisierte Erziehung auf Jagdberg zwischen 1880 bis 1945.
„Wenn du nicht brav bist, dann kommst du auf den Jagdberg!“ Wer von den älteren Generationen in Vlbg. kennt diese Androhung nicht? Als Kind verbanden wir damit einen Ort des Grauens und des Schreckens. Im Gegensatz zu der mindestens ebenso oft gehörten Drohung, in die Hölle zu kommen, war der Jagdberg ein real existierender Ort in einer wunderbar gelegenen Hanglandschaft im Walgau. Dr. Christoph Hackspiel, Geschäftsführer des Vorarlberger Kinderdorfs, erläutert kurz in seinem Vorwort, wie es zu dieser Arbeit und zur Zusammenarbeit gekommen ist. In einer kurzen Replik verweist er darauf, dass körperliche Gewalt in der Schule erst 1974 und das Gewaltverbot in der Erziehung 1989 per Gesetz verboten wurde. Alarmierend ist seine Feststellung, dass zwei Drittel der Kinder im familiären Umfeld körperliche Strafen heute noch über sich ergehen lassen müssen. Dieser leider nach wie vor verbreitete Erziehungsstil kommt nicht von ungefähr.
Unheilige Allianz zwischen katholischer Kirche und konservativer Politik
Wo diese Gewaltbereitschaft in der Erziehung ihre Wurzeln hat, zeigt Wanner eindrucksvoll auf, indem er Kindheit, Jugend und Familie in Vorarlberg im erwähnten Zeitraum unter sozialhistorischen Aspekten genauer ausleuchtet. Anhand einer Reihe von Zitaten, hauptsächlich aus der damaligen Vorarlberger Presse, aber auch aus anderen Publikationen, greift er akribisch alle gesellschaftspolitisch relevanten Themen auf. Unverblümt belegen die Zitate die unheilige Allianz zwischen der katholischen Kirche und den konservativen Vertretern der Politik. „Die einzige Rettung nicht nur Voralbergs, sondern der gesamten Menschheit sahen die Konservativen in einer Identifikation der Gesellschaft mit der katholischen Papstkirche und ihren ‚absoluten, göttlichen‘ Werten, Wahrheiten und Forderungen.“ (Wanner/ Spies, 2012, Seite 11)
Es gab zwar einen liberalen Widerpart durch die „Fortschrittspartei“ bzw. später durch die „Deutschfreisinnigen“, die Sozialdemokraten und auch durch die Regierung im fernen Wien, aber in diesem von der katholischen Kirche dominierten Klima der Angstmacherei und Verboten hatten sie kaum eine Chance, liberale Ideen umzusetzen. Sie wurden von den Konservativen und der katholischen Kirche geradezu als „Abschaum der Gesellschaft, ja der Menschheit“ dämonisiert. Die Verbreitung liberaler Ideen erfolgte durch die „Feldkircher Zeitung“ (liberal), den „Vorarlberger Volksfreund“ (deutschfreisinnig) und die „Vorarlberger Wacht“ (sozialdemokratisch), durch diverse Vereine und einzelne liberale Politiker und Industrielle. Demgegenüber stand die Übermacht der konservativ-christlichsozialen Tageszeitungen „Vorarlberger Landbote“ und „Vorarlberger Volksblatt“, die das Sprachrohr für die christlichsozialen Politiker waren. Sie bildeten eine Symbiose mit der Kirche, den vielen katholischen Vereinen, die alle Lebensbereiche vom Sport, über Mütter, Arbeiter, Raiffeisenkasse bis zur Musik und Priester abdeckten. Neben der Kirche waren die Lehrer und Erzieher, die das erzkonservative katholische Gedankengut unter die Leute brachten.
Schule als Ort katholischer Indoktrination
Um die Wichtigkeit der Einflussmöglichkeiten wissend, wurde auch das katholische Lehrerseminar 1888 von den Schulbrüdern in Feldkirch-Tisis gegründet. Deshalb wurde diese „Lehrerfabrik“ von den Freisinnigen 1892 als „clerikale Parteianstalt“ bezeichnet. Folgendes Zitat aus dem Vorarlberger Volksblatt fasst das inhaltliche Programm der Lehrerbildung so zusammen: „Die katholische Religion ist die einzige und alleinige Macht auf Erden, welche das Schulkind schon überzeugt, daß über ihm ein Gott als unendlich weiser Gesetzgeber steht, welcher das Recht und die Güte hat, seine Gedanken und Wünsche, seine Worte und Werke zu regulieren, und daß über ihm ein Gott als unbestechlicher Richter wacht, welcher mit allgegenwärtigem Auge sein Thun und Lassen beobachtet und ihm dafür nach Verdienst Lohn und Strafe zumißt in der Zeit und in der Ewigkeit.“ (Wanner/ Spies, 2012, Seite 44) Aus der Polarität zwischen den Konservativen und Liberalen entwickelte sich dann auch der Begriff der „Altschule“ und „Neuschule“, wo neuere Erkenntnisse der Pädagogik und der Sozialwissenschaften einfließen sollten. Dass diese „Modernismen“ von Vlbg. ferngehalten wurden, dafür sorgten mit aller Vehemenz die Konservativen. Diese Verhinderungshaltung hat sich bis heute kaum geändert – nur mit dem Unterschied, dass den Konservativen heute die Unterstützung der allmächtigen Kirche mehr oder weniger abhanden gekommen ist!
Dieses pädagogische Konzept im Namen Gottes legitimierte, alles mit den Kindern und Jugendlichen zu machen, besonders Erniedrigung, Gewalt, Psychoterror, Missbrauch usw. Dass diese dann als Erwachsene, so indokriniert, diese Traditionen fortsetzten, hatte und hat entsprechende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben bis herauf in die Gegenwart. Wanner beleuchtet auch noch viele andere Bereiche durch eine Reihe von Zitaten aus den damaligen Printmedien.
Solche Kapitel sind:
- „Erzieherische Maßnahmen und Zielsetzungen“ (z.B. Mädchenerziehung, Spielzeug, Sparsamkeit, körperliche Züchtigung)
- „Soziale Einrichtungen“ (z.B. Kindergärten, Bewahranstalten, Waisenhäuser, pädagogische Spezialeinrichtungen, Ferienkolonien)
- „Jugendgruppen“ (katholische Jugendgruppen und katholische Studentenverbindungen, deutschvölkische Studenten, Pfadfinder und Wandervogel)
- „Soziale Randgruppen“ (Alparbeit und Schwabenkinder, Maschinenkinder, welsche Immigrantenkinder, Vagantenkinder und Bettelei)
- „Normabweichendes Verhalten“ (z. B. Religions- und Kirchenfeindlichkeit, Nachtschwärmerei, Raufereien und Schlägereien, Tabak- und Alkoholkonsum)
- „Sexualität, Unsittlichkeit und Sittlichkeit“ (strikte Moralvorstellungen, weibliche Sexualität, Marienverehrung, Koedukation, unsittliche Literatur und Bilder, Fasnacht und Tanzveranstaltungen, Badesitten, sexueller Missbrauch und klerikale Sittlichkeitsdelikte)
- „Gesundheit – Krankheit“ (z.B. Geburten- und Säuglingssterblichkeit, Abortus – Kindsmord – Kindesweglegung, uneheliche Kinder, Ernährung, Schulturnen, Sport).
Der Vorarlberger Kinderrettungsverein und die institutionalisierte Erziehung auf Jagdberg 1880 bis 1945
Johannes Spies setzt sich intensiv mit der Geschichte des Jagdbergs von den Anfängen bis 1945 auseinander. Soviel sei vorweggenommen: Wie in einem Mikrokosmos spiegelt sie die gesellschaftspolitischen Verhältnisse Vorarlbergs im Jagdberg und anderen Erziehungseinrichtungen wider. Deshalb ergänzen einander die beiden Arbeiten trefflich. Ohne Wanners Darstellungen wäre man versucht zu glauben, dass sich die Vorkommnisse in Vorarlbergs Erziehungseinrichtungen, besonders im Jagdberg, ausschließlich irgendwo weit weg in einem totalitären System, möglicherweise bei den Taliban, zugetragen haben. Aber dem ist leider nicht so, wie die in jüngster Zeit nach und nach aufgedeckten Ereignisse im Jagdberg, die Missbrauchsfälle im Kloster Mehrerau und die Forschungen von Spies beweisen. In Vlbg. nahmen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. drei Vereine der Kinder- und Jugendfürsorge an. 1884 wurde der „Verein zur Rettung sittlich verwahrloster Kinder“ gegründet. Direktor des Vereins war der Priester und konservative Landtagsabgeordnete Johannes Baptist Jehly. Er prägte mit seinen Erziehungsvorstellungen maßgeblich die Pädagogik für die „sittlich verwahrloste Jugend“: „Das Rettungshaus für verwahrloste Jugend hat die Aufgabe, sittlich verkommenen Kindern eine religiös-sittliche Erziehung zu verschaffen und sie auf diese Weise zu tüchtigen Gliedern der menschlichen Gesellschaft heranzubilden. Wir verstehen unter verwahrloster Jugend jene Kinder, die ohne wahrhaft christliche Erziehung heranwachsend, ihren verbrecherischen Trieben und bösen Gelüsten folgend, die Bahn des Lasters betreten und auf derselben dahinwandeln.“ (Wanner/Spies, 2012, Seite 262)
„Sie sind ausgelassen, roh, vielfach bösartig und abstoßend.“
Im Jahresbericht III des Vorarlberger Kinderrettungsvereins werden die Kinder und Jugendlichen in seinen Erziehungseinrichtungen wie folgt charakterisiert: „Sie sind ausgelassen, roh, vielfach bösartig und abstoßend.“ (Wanner/ Spies, 2012, Seite 294) Bei einer solchen Einstellung zu Kindern und Jugendlichen braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie menschenverachtend mit ihnen umgegangen wurde, welche Qualen, Grausamkeiten, Erniedrigungen und Schmerzen sie durchmachen mussten – und das alles für ein „höheres“ Ziel: als Erwachsene ein religiös-sittliches und gottgefälliges Leben zu führen. Auch die Hausordnung verstärkt diesen Eindruck. So wurde der Tagesablauf beinahe minutiös festgelegt. Der Tag begann für die Kinder um 5.45 Uhr und endete um 20.00 im Bett. Die Tagesstruktur ist vergleichbar mit einem strengen früheren katholischen Internat, wo die religiösen Übungen beinahe gleichbedeutend dem Unterricht waren. Im Jagdberg kamen aber noch verpflichtende Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft dazu. Die in der Hausordnung verankerten körperlichen Züchtigungen oder Strafen des Fastens wurden zwar von der k.u.k. Statthalterei in Innsbruck verboten, aber wer sollte das kontrollieren? Dass dieses rigide und menschenverachtende System nahtlos 1938 von den Nazis übernommen werden konnte, versteht sich von selbst. Es gab zwei gravierende Unterschiede: Das streng katholische wurde von Nazi-treuem Personal ersetzt und die religiösen durch paramilitärische Übungen abgelöst.
Fazit der Lektüre dieses spannenden und zugleich beklemmenden Buches: Es gibt einen tiefen Einblick in die Ideologie- und Mentalitätsgeschichte Vorarlbergs und leistet einen wertvollen Beitrag, die Ungeheuerlichkeiten der in der letzten Zeit aufgedeckten Skandale im Jagdberg bzw. im Kloster Mehrerau annähernd zu verstehen.
Gerhard Wanner/Johannes Spies, Kindheit, Jugend und Familie in Vorarlberg 1861 bis 1938, Schriftenreihe der Rheticus – Gesellschaft 57 in Zusammenarbeit mit dem Vorarlberger Kinderdorf, Feldkirch – Bregenz 2012, Euro 15, ISBN 978-3-902601-33-9
Das Buch ist im Kinderdorf Vorarlberg und bei der Rheticus-Gesellschaft in Feldkirch erhältlich.