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Markus Barnay · 24. Mär 2015 · Literatur

„Vorarlberg – und darüber hinaus“ – Alois Niederstätters Vorträge zu Geschichte und Gegenwart zum Nachlesen

Was macht eigentlich ein Landesarchivar? Ganz so einfach ist die Antwort auf diese Frage nicht. Ein Landesarchivar sorgt in erster Linie dafür, dass jenes Schriftgut, das von Amts wegen aufbewahrt werden muss, gesichtet, bewertet und geordnet wird – und schließlich in geeigneter Form den Archivbenutzern zugänglich gemacht wird. Zu den Benutzern gehören nicht zuletzt die MitarbeiterInnen der Landesverwaltung, denen der Landesarchivar wiederum beibringen muss, wie sie ihre Akten am besten so aufbewahren, dass sie später ordentlich archiviert werden können. Ein Landesarchivar muss aber auch Unterlagen für Reden der Landespolitiker liefern, sie fachlich beraten und mitunter auch selbst Vorträge zu bestimmten Themen halten. Ein Landesarchivar sollte eigentlich auch forschen und die Ergebnisse seiner Forschungen publizieren – wenn er dafür Zeit hat.

Große thematische und zeitliche Bandbreite


Alois Niederstätter hat eigentlich wenig Zeit für das Forschen und Publizieren – jedenfalls nicht in der Dienstzeit. Also forscht der Vorarlberger Landesarchivar in der Freizeit. Die muss freilich ziemlich ausgefüllt sein, umfasst doch sein Schriftenverzeichnis mehrere hundert Artikel, Beiträge und Bücher. Aus Anlass seines 60. Geburtstags Anfang des Jahres haben Niederstätters Mitarbeiter Manfred Tschaikner und Ulrich Nachbaur eine Liste seiner Veröffentlichungen zusammengestellt – und die ist nicht nur wegen ihres Umfangs, sondern auch wegen ihrer thematischen und zeitlichen Bandbreite beeindruckend.

Er zertrümmert Mythen und Legenden elegant und beiläufig


Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, von der Ortsgeschichte kleinster Gemeinden bis zur Geschichte der Schweiz – das Spektrum der Themen, mit denen sich Niederstätter in den letzten Jahrzehnten beschäftigte, reicht weit über die Lokal- und Regionalgeschichte hinaus. Besonders deutlich wird das in seinen Vorträgen, die er auf Fachkongressen, bei Festveranstaltungen oder Buchpräsentationen hält. Es sind kompakte, fundierte, leicht verständliche und trotzdem gewichtige Darstellungen von historischen Ereignissen und Zusammenhängen, die nicht selten in krassem Gegensatz zu vielen ideologisch geprägten Geschichtsdarstellungen aus früheren Jahrzehnten stehen. Alois Niederstätter versteht es ja wie kaum ein anderer, historische Mythen und Legenden so elegant und beiläufig zu zertrümmern, dass es selbst die Anhänger dieser Mythen und Legenden kaum merken. Insofern ist es ein Glücksfall, dass Tschaikner und Nachbaur jetzt 41 dieser Vorträge in einem kompakten Band zum Nachlesen versammelt haben.

Bilgeris Landesgeschichte – „ein historiographischer Anachronismus“

 

Schon gleich zum Auftakt kann man eine kompakte Übersicht über die Vorarlberger Landesgeschichtsschreibung genießen, in der die fünfbändige Geschichte von Benedikt Bilgeri ganz nüchtern den ihr zustehenden Platz zugewiesen bekommt – als ein spätes, ethnozentriertes Beispiel ‘monumentalistischer‘ Geschichtsbetrachtung im Sinne Nietzsches, das schon bei seinem Erscheinen ein historiographischer Anachronismus war. Niederstätter weist aber auch darauf hin, dass trotz aller Bemühungen von Orts- und Heimatgeschichtsforschern wie auch der engagierten und kritischen Historiker der letzten Jahrzehnte noch immer erhebliche Defizite in der Geschichtsforschung bestehen: Wir wissen viel zu wenig über die demographischen, verkehrs-, verfassungs-, verwaltungsgeschichtlichen Gegebenheiten, über Konstanten und Wandel im ökonomischen Bereich, über die Bedingungen, unter denen soziale Veränderungen abliefen (S. 34).

Historische Fakten gegen liebgewonnene Geschichtsbilder


Zu den interessantesten Kapiteln im neuen Buch gehören aber jene, in denen Niederstätter bestehende Vorurteile, oder sagen wir: liebgewonnene Geschichtsbilder, mit historischen Fakten widerlegt – um aber zugleich klarzustellen, dass auch sein Befund nur ein vorläufiger ist, weil noch längst nicht alles erforscht ist, weil aber auch sein Blick an Zeit und Interessen gebunden ist. Zum Beispiel der „Appenzellerkrieg“, jene Auseinandersetzung Anfang des 15. Jahrhunderts, die in der Vorarlberger Landesgeschichtsschreibung nach 1945 unter dem Begriff „Bund ob dem See“ als Beispiel für ein frühes Autonomiebestreben der Vorarlberger gehandelt wurde – eine Einschätzung, die Niederstätter als „Beispiel für die politische Instrumentalisierung mittelalterlicher Geschichte“ beurteilt. In Wahrheit, so legt der Direktor des Landesarchivs dar, waren sowohl die Ursachen als auch die Vorgänge während der „Appenzellerkriege“ viel komplexer und durch die unterschiedlichsten Interessenkonstellationen geprägt: Symptomatisch für die Vielschichtigkeit der Handlungsmotive sind die Vorgänge im südlichsten Vorarlberg. Die Stadt Bludenz verweigerte vorerst den Beitritt zum Bund und schloss sich erst auf Drängen ihres Herrn, des Grafen Albrecht von Werdenberg, an, der selbst außer Landes ging. Die Bewohner des benachbarten Tals Montafon traten hingegen dem Bund spontan bei, in erster Linie aber wegen ihrer permanenten Konflikte mit der Stadt Bludenz, die das wirtschaftliche und politische Geschehen im Montafon weitgehend kontrollierte. Für die Montafoner ging es darum, sich aus der Abhängigkeit von Bludenz zu lösen und eine eigene Gemeinde, ein eigenes Gericht zu bilden (S. 52).

Die „bayerische Knechtschaft“ – ein Segen für das Land?


Ähnlich wie beim „Bund ob dem See“ geht Niederstätter auch bei der Beschreibung der „bayerischen Knechtschaft“ vor, jener Phase in der Geschichte des Landes, in der die vormals habsburgischen Herrschaften Teil des Königreichs Bayern waren (1805 - 1814): Einer detaillierten Beschreibung der Ereignisse folgt eine Analyse der historischen Bewertung durch die Nachwelt zwischen 1820 und heute – mit einem ernüchternden Fazit: Die Geschichte Vorarlbergs zur ‘Bayernzeit‘ ist nach wie vor nicht geschrieben, allenfalls die Faktenlage zum Aufstand von 1809 (jenem Versuch des österreichischen Militärs, die zuvor verlorenen Gebiete mit Hilfe der regionalen Landwehr zurückzuerobern – Anm. d. Verf.). Indem die regionale Historiographie die bayerische Verwaltungstätigkeit – so wie die Zugehörigkeit zum Königreich Bayern – zur bloßen Episode machte, verkannte sie deren enorme Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes. Dass Österreich fast alles, was die Bayern zwischen 1806 und 1814 eingeführt hatten, beibehielt, machte das Westende der Donaumonarchie für mehr als ein halbes Jahrhundert zu ihrem weitaus modernsten Teil (S. 112). Niederstätter vermutet, dass es vor allem die Entmachtung der damaligen Elite war, die sowohl die Zeitgenossen als auch spätere Chronisten zu ihrem negativen Urteil über die bayerische „Revolution von oben“ veranlassten. Immerhin hatten die Bayern nicht nur bahnbrechende soziale Reformen durchgeführt: Die fortschrittliche bayerische Verfassung des Jahres 1808 gewährte die Gleichheit vor dem Gesetz, garantierte allen Staatsbürgern Sicherheit der Person, des Eigentums, die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Pressefreiheit, beschränkte den Adel auf Titel und Grundeigentum und hob die letzten Reste der Leibeigenschaft auf (S. 104).

Amüsante und lehrreiche Lektüre


Weitere Beispiele für ähnlich erhellende Darstellungen gibt es mehr als genug – etwa, wenn Niederstätter die langsame Entstehung des „Landes“ Vorarlberg im 18. und 19. Jahrhundert beschreibt („… um Verleihung eines Landeswappens wird alleruntertänigst gebethen …“), oder wenn er den Ursprung der gegenseitigen Vorurteile von Schweizern und Vorarlbergern analysiert („Von Kuhschweizern und Fürstenknechten“). Überhaupt sind die Vorträge über das Verhältnis zwischen Habsburg bzw. Österreich und der Eidgenossenschaft weitere Gustostücke einer oft amüsanten, immer wieder lehrreichen und bisweilen überraschenden Lektüre.

Lieber schweizerisch oder schwedisch, lieber tot als emsisch!


In einigen Fällen reichen die historischen Betrachtungen Niederstätters auch bis in die Gegenwart – und scheuen auch da keine kritische Analyse: Die kleinteilige politische Segmentierung der Bodenseeregion sowie unterschiedliche Mentalitäten bestimmen nach wie vor die Wahrnehmungsräume der Nachbarn am See – und damit ihre Aktionsradien, urteilt er über die vielbeschworene „Euregio Bodensee“: Kaum ein Vorarlberger besucht die Universität Konstanz, wenige nur die von St. Gallen oder Zürich, obwohl Innsbruck, Wien oder Graz wesentlich weiter entfernt sind. Von den über 10.000 Studierenden der Universität Konstanz kamen aber im vergangenen Jahr (2007) auch nur 115 aus der Schweiz – etwa gleich viele wie aus der Volksrepublik China! (S. 265) Dass die Bodenseeregion als historischer Kulturraum dennoch kein Mythos ist, sondern tatsächlich existierte, weist Niederstätter im gleichen Vortrag aus dem Jahr 2008 aber ebenfalls nach – und verweist zugleich auf die eigentliche Ursache für die „tiefe Bruchlinie, die den Bodenseeraum bis heute spaltet“ – den habsburgisch-eidgenössischen Antagonismus und die aus ihm resultierenden territorialen Entwicklungen. Und selbst in diesem Zusammenhang findet sich noch eine kleine Spitze gegen die Legende von der historischen Schweiz-Begeisterung der Vorarlberger: Als im Jahr 1655 Graf Karl Friedrich von Hohenems versuchte, seinen Machtbereich auch auf Dornbirn auszudehnen, und ein entsprechendes Geschäft mit der österreichischen Landesherrschaft abschloss, erhob sich ein Sturm der Entrüstung gegen diesen Verkauf. Die Dornbirner verweigerten die Huldigung und erklärten, sie wollten lieber schweizerisch oder schwedisch, lieber tot als emsisch sein. … Schweizerisch zu sein zählte also in Vorarlberg noch lange nicht zu den erstrebenswerten Perspektiven (S. 263).

 

Alois Niederstätter, Vorarlberg – und darüber hinaus. 41 Vorträge zu Geschichte und Gegenwart, 472 Seiten, € 29,90, ISBN 978-3-7030-0863-4, Universitätsverlag Wagner Innsbruck