Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast. (Foto: Matthias Horn)
Raffaela Rudigier · 19. Mär 2014 · Literatur

„You better start swimming or you´ll sink like a stone“ - „Korridorwelt“ der neue Roman von Hans Platzgumer

Leben auf einer gesprungenen Glasscheibe - das versucht Julian Ogert, Hauptfigur im neuen Roman „Korridorwelt“ von Hans Platzgumer. Immer in der Angst davor, dass alles zusammenbricht: innerlich, wie äußerlich.

Julian verdient sein Geld in Münzen. Er ist 24 Jahre alt, schlägt sich als Straßenmusiker in Los Angeles durch und lebt in einem der gefährlichsten Viertel der Stadt, im „Yucca Corridor“. Eines Morgens wacht Julian inmitten des Chaos eines kalifornischen Erdbebens auf. Es ist der 17.1.1994, das Northridge-Erdbeben, dessen Zentrum sich in der Nähe der Stadt LA befand, richtet großen Schaden an. Viele Menschen fliehen, Julian bleibt. Doch nun beginnt sich seine Welt zu verändern: „Mein Absturz in Kalifornien kam erst mit den Nachwirkungen des Bebens. Im eigentlichen Moment der Katastrophe war es, als ginge sie mich nichts an. Und sollte alles untergehen, konnte mir das ebenso recht sein. Ich hatte ja nichts zu verlieren.“

„The west is the best. Come here and we´ll do the rest“


Bisher hat er sein Leben am westlichsten Punkt seiner Reise genossen. Bereits mit 16 Jahren ist Julian Ogert aus Linz, seiner Heimatstadt, geflohen. Sein Leben ist durch ein dramatisches Ereignis auseinandergebrochen. Seither ist er auf der Flucht, vor seiner Vergangenheit, vor sich selbst. Seine Ziele sind: vergessen, wo er herkam und – der Westen. Hauptsache weg von der „leidenschaftslosen Existenz“ seiner Kindheit und Jugend. So gelangt er über die Schweiz und Paris nach New York und schließlich nach Kalifornien. Einsam und getrieben, nur mit einem Rucksack und seiner Gitarre. Seither führt er „das Korridorleben des Nomaden, der alles anders machte, als er es gelernt hatte, es zu machen. Mein zweites Leben, das Überleben des ersten.“

Zurück in die Zukunft


Von diesem Fluchtpunkt aus schickt Autor Hans Platzgumer seinen Protagonisten gleichzeitig auf eine Reise in die Zukunft und in die Vergangenheit. Mehrere Zeitebenen vermischen sich ineinander: Julians Leben in LA im Jahr 1994, seine Kindheit in Linz, die darauffolgende Reise Richtung Westen und sein Leben in der chilenischen Atacama Wüste im Jahr 1997. Dabei gestaltet Platzgumer die Übergänge zwischen den Ebenen kunstvoll und nahtlos perfekt: eben ist man noch auf den Spuren des jungen Julian, der geschockt durch Linz taumelt, während sich die Stadt im nächsten Absatz schon in LA verwandelt hat.

Selbstfindungstrip im cineastischen Stil


„Korridorwelt“ liest sich wie ein Roadmovie. Es ist ein Selbstfindungstrip mit dazu passendem Soundtrack – hauptsächlich Musik der 60er und 70er-Jahre, wie etwa „Instant Karma“ (John Lennon), „The Times they are a changing“ (Bob Dylan), „Hey Joe“ (Jimi Hendrix) oder „The End“ (The Doors). Cineastisch wirken teilweise auch die Stilmittel, die Hans Platzgumer verwendet: Wenn beispielsweise eingeschobene Liedzeilen mit dem Geschehen verwoben sind oder Plakate von Horrorfilmen den Monolog einer Psychiaterin karikieren. So wird auch das ganz banale Bild von zwei Schuhpaaren vor der Tür durch Wiederholung, wie kurze Blenden im Film, zum traurigen Symbol eines dramatischen Ereignisses.

Die Wüste als Nullpunkt


Musikalische Anspielungen und andere interdisziplinäre Querverweise kann man sich bei einem Multitalent, wie Autor und Musiker Platzgumer es ist, beinahe erwarten. Auch andere Dinge sind in seinem literarischen Schaffen immer wiederkehrend: (Natur-)Katastrophen, Selbstfindungstrips, Sehnsucht nach elementarer Veränderung oder auch klimatisch extreme Naturlandschaften, in denen der Mensch völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist, wie etwa die Arktis oder hier eben die Atacama Wüste. „In meinem abgekapselten Dasein vor dem erstarrten Steinhorizont der Atacama vermischten sich Träume und Erinnerungen, Visionen und Ideen zu etwas Neuem, das zwar keine begreifbare Gestalt hatte, aber trotzdem sichtbar war.“

Korridorwelt – ein Entwicklungsroman


Die äußere Reise Julian Ogerts gleicht seiner inneren Entwicklung: die Schutzmauer, die der junge Mann um sich aufgebaut hat, damit nichts und niemand zu ihm druchdringen kann, bekommt leichte Risse. Eine Ahnung wird zur Gewissheit: Flucht befreit auf Dauer nicht. Irgendwann muss sich Julian seinen Dämonen stellen. So wird schließlich ein flüchtiger Bekannter zum Lichtblick. Durch ihn hat der „ausgewachsene Misanthrop“ doch so etwas wie einen Freund auf dieser Welt gefunden.

Europäische und amerikanische Abgründe


„Korridorwelt“ ist eines dieser Bücher, das man in einem Satz durchlesen muss: es ist spannend, rasant, berührend, wahr, traurig, gruselig, dramatisch und trotz allem immer auch ein bisschen hoffnungsvoll. Es entführt in andere Länder, schafft durch die Verbindungen in die Heimat jedoch stets Nähe. Hans Platzgumer erweist sich dabei als exzellenter Erzähler und scharfer Beobachter. So entsteht eine realistisch anmutende Darstellung der Abgründe der USA, ein Zeitbild der 90er-Jahre: aufkeimende Rassenunruhen, das Schattendasein der zahllosen illegalen Immigranten, Drogensüchtigen und Verlorenen, deren Träume oft in den Gossen Hollywoods enden. Dass Hans Platzgumer in dieser Zeit selbst in Kalifornien gelebt hat, erleichterte ihm dabei wahrscheinlich diese detailgenaue Beschreibung.

Einfach nur sein


Ganz beiläufig werden darüberhinaus beinahe Zen-verdächtige, philosophische Betrachtungen in den Roman eingewoben, etwa wenn sich Julian wünscht, anders zu sein. So, wie die Amerikaner, einfach abhängen und ein bisschen palavern. Stattdessen erkennt er: „(...) dass ich immer noch in einer beschissenen Tiefgründigkeit feststecke. Ich will es nicht, aber es scheint, ich bin zum Europäer verdammt. Ich sammle Erfahrungen, statt einfach nur zu sein.“
„Korridorwelt“ von Hans Platzgumer – absolut lesenswert.

 

Hans Platzgumer, Korridorwelt, 224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-89401-786-6, Edition Nautilus, Hamburg 2014