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Annette Raschner · 18. Mär 2015 · Literatur

Das „Hohenems Lesebuch“ - Geschichten rund um den Schlossberg

Die Endgültigkeit der Deutung ist unmenschlich, weil sie am Ende nur historische Gleichgültigkeit und Ahnungslosigkeit erzeugt, zitiert Daniela Egger den in Vorarlberg lebenden Germanisten und Theologen Willibald Feinig. Weil erst viele Stimmen Geschichte ergeben, und weil es – wie es der italienische Archäologe und Kunsthistoriker Salvatore Settis formuliert hat – nicht nur eine Vergangenheit gibt, sondern mehrere, „und oft stehen sie im Widerspruch zueinander“, empfiehlt sich das soeben im Verlag unartproduktion erschienene „Hohenems Lesebuch“, für das Daniela Egger zahlreiche Geschichten „vom Fuße des Schlossbergs, von zwei Gassen, die es so nie gab, von Häusern und Menschen, die so, aber gleichzeitig immer auch anders waren und von Ereignissen, die so viele Geschichten wie ErzählerInnen haben“, ausgewählt und zusammengestellt hat; ein Buch, das keinen Anspruch an Vollständigkeit stellt, sondern das Ziel verfolgt, unterhaltsame, kleine Blitzlichter auf die Geschichte von Hohenems und die Menschen zu werfen, die darin vorkommen.

Auf dem Buchumschlag sind Frauen und Kinder beim Baden am Schellenbühel zu sehen. Es war das erste öffentliche Bad in Hohenems. Anfangs wurde dort noch nach Geschlechtern getrennt. Auf die einst vielerorts noch gänzlich unberührte Naturlandschaft nimmt der Kunsthistoriker Johannes Inama im Kapitel „Hohenemser über ihre Stadt“ Bezug. Er erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in den 1970er-Jahren in Hohenems, als die Stadt für ihn primär eines war: Ein riesiger Abenteuerspielplatz! „Wälder und Wasser übten eine magische Anziehungskraft auf uns aus. Wir verbrachten fast die ganze Zeit im nahen Wald, bauten dort unsere Hütten, rauchten die ersten Zigaretten und waren tagelang unterwegs, um die Hänge zwischen Schwefelberg und Schlossberg zu erkunden.“
„Von der Gegenwart aus betrachtet wird Hohenems in der Vergangenheit immer größer, die Perspektive wächst, anstatt sich zu verkleinern“, schreibt Daniela Egger am Beginn ihres Vorworts. Auch sie ist ein „Kind von Hohenems“ und erinnert sich an „Frauen in diesen bunten Kleidern und dem fremden Geruch, die mit der bloßen Hand Brennesseln pflückten“. Aber: „Niemand, mit dem ich wegen des Lesebuchs sprach, kann sich an Zigeuner in Hohenems erinnern.“

In einen Tiefschlaf gefallen


In eine Erinnerungslücke beziehungsweise in eine Art Tiefschlaf war die Stadt auch Mitte der 1950er-Jahre gefallen, als aus der Synagoge ein Feuerwehrhaus wurde; ein „aus heutiger Sicht schwer verständlicher, an Gründlichkeit und Brutalität kaum zu überbietender Akt der Verdrängung“. 300 Jahre Familiengeschichte jüdischer Frauen, Männer und Kinder lassen Museumsleiter Hanno Loewy konstatieren: „Hohenems liegt mitten in der Diaspora“. Die Stationen der Entwicklung und des nicht immer erfreulichen Umgangs mit dem jüdischen Viertel: Sie sind im Hohenemser Lesebuch ausführlich nachzulesen, denn Daniela Egger konnte bei ihren Quellen neben Texten aus der Buchreihe „Almanach“ des Hohenemser Kulturkreises auch auf das umfangreiche Manuskript von Radio Mikwe zurückgreifen, dem ersten deutschsprachigen jüdischen Internetradio, das erstmals am 7. März 2010 auf Sendung ging und sich als Forum für einen kritischen Diskurs über jüdische Gegenwart versteht.

Mut und Weitblick


Nach derart viel Informativem sehnt man sich etwas nach Anekdotischem – und wird im letzten Kapitel belohnt, wenn etwa an die 10. Ausgabe des Transmitterfestivals mit den beiden damaligen „enfants terribles“ Gottfried Bechtold und Christoph Schlingensief erinnert wird. Letzterer, leider viel zu früh verstorben, provozierte vier Tage nach dem Einsturz der twin towers mit der Frage, weshalb eigentlich die Freiheitsstatue noch stehe. Weshalb der Hohenemser Schubertiadetraum vierzehn Jahre nach dem durchschlagenden Erfolg der Premiere bereits wieder ausgeträumt war, wussten nahezu alle: „Es mangelte an Mut und Weitblick“. Beides war dafür gegeben, als sich die Stadt entschloss, einen Literaturpreis für deutschsprachige AutorInnen nicht-deutscher Muttersprache auszuschreiben. 2009 wurde er erstmals an Michael Stavaric und Agnieszka Piwowarska vergeben und ist trotz seiner jungen Jahre eigentlich gar nicht mehr aus Hohenems wegzudenken. Den Abschluss des Kapitels bildet „Hörensagen“: Das Siegerprojekt des VLOWawards 2014 für die Stadt Hohenems zur Belebung und Bespielung des jüdischen Viertels und der Marktstraße. An 24 Punkten in Hohenems sollen kleine Geschichten hörbar werden, die aus verschiedenen Perspektiven Informationen zum Ort vermitteln.

Vision Stadt Hohenems


Gedanken zur Zukunft von Hohenems, das einst eine historische Grafschaft war, deren politische Verbindungen zur Zeit ihrer Blüte bis nach Mailand und Rom reichten, macht sich auch Schriftstellerin Gabriele Bösch, eine von vielen Köpfen, die den Stadtentwicklungsprozess Vision Stadt Hohenems vorantreiben. Sie streut Hohenems Rosen, weil es hier gelinge, „jenseits von parteipolitischen Interessen ein Gemeinwesen von 'unten' herauf neu zu entwickeln, in welchem die Bürger wieder Verantwortung übernehmen, weil sie in ihren Bedürfnissen, in ihrem Wissen, in ihrer Erfahrung, in ihrer Kreativität ernst genommen werden.“ Und das war wahrlich nicht immer in Hohenems der Fall!

Das Hohenems Lesebuch ist übrigens bereits das 14. Lesebuch, das im Verlag unartproduktion erscheint. Es bietet viele Informationen und Anregungen, sich mit Hohenems – seinen Orten, Straßen, Plätzen und Menschen - neu auseinanderzusetzen. Das tat auch die junge Schriftstellerin Maya Rinderer, als sie vor einiger Zeit einen Ausflug in die Nachbarstadt Hohenems tätigte. „Der geduckte Berg trägt einen falschen Weihnachtsmannbart aus faserigen unbewegten Wolkenhaufen. Die Kinder spielen zu nah am Bahnsteigrand und ich stehe auf, spanne meinen Schirm auf, gehe weiter, um keines von ihnen sterben sehen zu müssen.“

 

Buchpräsentation:
Fr, 26. März, 18.30 Uhr, Palast Hohenems
Es lesen: Gabriele Bösch, Daniela Egger, Dieter Heidegger, Stéphanie Waldburg-Zeil
Musikalische Umrahmung: Ensemble stimm.art

Hohenems Lesebuch, € 22, ISBN 978-3-901325-97-7, unartproduktion, März 2015
www.lesebuch.at