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Meinrad Pichler · 18. Dez 2014 · Literatur

Fußach im Fokus - Kein Beitrag zum 50er der „Schiffstaufe“

Was kann interessant oder gar spannend sein an einer detaillierten finanziellen Vermessung eines Dorfes um die Jahrhundertwende von 1800? Wenig, könnte man meinen. Nach der Lektüre des Buches „Vom Geld und von Schulden“ der Historikerin Sabine Sutterlütti ist man allerdings eines Besseren belehrt. Die Autorin beschreibt an Hand aller zur Verfügung stehenden Quellen „die sozioökonomische Entwicklung von Fußach zwischen 1795 und 1836“ und eröffnet damit einen Einblick in einen historischen Mikrokosmos, dem in mancher Hinsicht auch andere Vorarlberger Kommunen ähneln, einiges aber ist ausschließlich ortstypisch.

Da wäre einmal die besondere Ausgangslage: Fußach, so stellt Sutterlütti an einigen Indikatoren fest, glich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur mehr einer Kleinstadt als einem Bauerndorf. Der überwiegende Teil der etwa 350 Köpfe zählenden Bevölkerung verdiente seinen Lebensunterhalt als Schiffsleute, Kornhändler, Frächter und Boten. Zeitweise seien täglich bis zu 40 Fuhrwerke von Fußach in Richtung Feldkirch und Chur abgegangen. Ein Dorfchronist wusste noch 1880 zu berichten, dass vor den 1794 beginnenden Franzosenkriegen ein Sprichwort besagt habe: „Fußach im Geld, Horn im Obst, Hagnau im Wi, sind am Bodensee die besten Örtle gsi.“ Der schrittweise Verlust dieser Stellung ist Inhalt dieses Buches.

Wirtschaftlicher Niedergang


Sabine Sutterlütti analysiert an Hand von Steuerverzeichnissen, Fassionslisten (Steuererklärungen) und Hauskatastern den wirtschaftlichen Niedergang dieses einst bedeutenden Umschlagplatzes am südöstlichen Bodenseeufer. Die solcherart erhobenen Wirtschaftsdaten werden mit persönlichen Daten der einzelnen Familien in Beziehung gesetzt. Voraussetzung dafür war die Erstellung einer genealogischen Datenbank, in der die gesamte Bevölkerung aus Tauf-, Ehe- und Sterbebüchern der untersuchten 40 Jahre erfasst ist. Damit lassen sich die familiären Vermögensverhältnisse und Netzwerke, die von wirtschaftlichen Interessen bestimmte Heiratspolitik und die Art des Vererbens aufzeigen.

In den Jahren ab 1794 befand sich Österreich an der Seite anderer europäischer Monarchien im Kampf gegen das revolutionäre Frankreich. Mehrfach waren französische Truppen an den Grenzen und in Vorarlberg selbst. Die Kosten für Einquartierungen und Landesverteidigung waren für Gemeinden und Bürgerschaft enorm. Nach der österreichischen Niederlage gegen Napoleon mussten die Habsburger Vorarlberg und Tirol 1806 an Bayern, das auf französischer Seite gekämpft hatte, abgeben. Während dieser bayerischen Herrschaft, die bis 1814 dauerte, wurden die bisherigen Gerichte als Verwaltungseinheiten abgeschafft und durch Gemeinden ersetzt. Fußach, das mit Höchst ein solches Gericht gebildet hatte, wurde nun zu einer eigenen Gemeinde.

Dieser Strukturwandel und die vorausgegangenen Kriegskosten bildeten wesentliche Gründe für die öffentliche und private Verschuldung. Dazu kamen schwere wirtschaftliche Verwerfungen, indem die Konkurrenz aus Rheineck und Bregenz den Kornhandel nach Graubünden den Fußachern erfolgreich streitig machten. Weiters verschärfte sich die Krise in den Jahren 1816 und 1817 durch nie gekannte Hunger- und Flutkatastrophen. Nicht alle konnten mit dem plötzlichen Mangel umgehen. Wer mehr Substanz und Sparsinn hatte, durchtauchte die Krise besser, wer ohnehin am Limit gewirtschaftet hatte oder den Abschwung zu spät erkannte, musste sich nun bei privaten Geldverleihern verschulden. Mit dem Niedergang der Gemeinde war zugleich ein lokaler Elitenwechsel verbunden. Familien, die sich gegen die Bayern exponiert hatten, gehörten nun auch zu den wirtschaftlichen Verlierern. Ihr Abstieg war auch durch die Rückkehr zu Österreich nicht mehr aufzuhalten.

Zwischen Soll und Haben


Sutterlütti schreitet quasi von Haus zu Haus, durchleuchtet die sozioökonomische Situation der einzelnen Familien und Clans, zeigt warum und wie wer verliert und wer gewinnt. Viele wurden nun auf ihre kleinen Landwirtschaften zurückgeworfen, mussten Bauern werden, obwohl sie früher besser bezahlte Dienstleistungsberufe gewohnt waren. Nur einigen wenigen gelang der Schritt ins industrielle Unternehmertum.

Selten ist der Strukturwandel in die neue Zeit genauer beschrieben und an einer konkreten Ortschaft so exemplarisch vorgeführt worden. Geld und Schulden bestimmten nicht nur das Leben und Streben der Einwohner von Fußach, sondern aller übrigen EuropäerInnen auch. Die tief schürfende Arbeit von Sabine Sutterlütti führt auf einsichtige und gut leserliche Weise vor, wie eine Dorfgemeinschaft zwischen Soll und Haben lebte, wie Schuldner in die Falle geraten sind und gestützt wurden und wie die Wohlhabenderen zwar ihren wirtschaftlichen Erfolg absicherten, aber trotzdem das Gemeinwohl nicht aus dem Auge verloren. Und überall, wo es ums Geld geht, kann die Autorin mit konkreten Zahlen aufwarten. Diese enorme Vorleistung wird noch für weitere Arbeiten einen nützlichen Grundstock bilden.

Fußach hat in den Jahrzehnten, die der beschriebenen Wende folgten, nie mehr die Bedeutung gewonnen, die diese Gemeinde einmal hatte. Die 1872 eröffnete Eisenbahn machte die ehemaligen Schiffer und Fuhrleute endgültig brotlos, und auch die Dampfschiffe fuhren an Fußach vorbei. Die traditionsreiche Fußacher Speditionsfamilie Weiß verlegte ihren Geschäftssitz nach Bregenz.

Die Zeiten, wo vornehme Italienreisende wie Johann Wolfgang von Goethe noch in Fußach anlegten, gehörten endgültig einer glanzvollen Vergangenheit an.

 

 

Sabine Sutterlütti, „Vom Geld und den Schulden. Studie zur sozioökonomischen Entwicklung von Fußach zwischen 1795 und 1836 mit besonderer Bezugnahme auf die Auswirkungen politischer, wirtschaftlicher und klimatischer Ereignisse auf die privaten und kommunalen Vermögensverhältnisse“, 370 Seiten, € 46,80, ISBN 978-3-89783-800-0, Roderer Verlag Regensburg 2014 (= Institut für sozialwissenschaftliche Regionalforschung, Veröffentlichungen 12)