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Ingrid Bertel · 07. Dez 2012 · Literatur

Liebe auf den zweiten Blick – Unartproduktion präsentiert ein außergewöhnliches Montafon-Lesebuch

Darf eine Liebeserklärung schonungslos sein? Wie kommt es an, wenn der Liebende Qualitäten rühmt, an denen dem Objekt der Liebe wenig gelegen scheint? Michael Kasper und Andreas Rudigier legen mit ihrem „Montafon-Lesebuch“ eine ungewöhnliche Liebeserklärung an das Tal vor. Postkartenidyll werden die LeserInnen darin nicht finden, keinen Hemingway und kein „Tal der Sterne“. Dafür einen Blick in die Geschichte wie in ein Brennglas. Liebe auf den zweiten Blick also. Und nach einem Jahrhundert, in dem beinah jede Liebeserklärung an das Tal von Kitsch und Pathos begleitet war, ist das womöglich ganz heilsam.

„Jo, es ka decht no oper wärda, wenns an guata Herbscht giet.“ Das muss ein hartgesottener Bauer gewesen sein, dem dieser Satz einfiel. Zumal den Touristikern zwölf Monate Schnee auch recht wären. Das Montafon hat jahrzehntelang gut von Schnee und Wasser, von Skipisten und Strom gelebt. Jetzt sind die fetten Jahre wohl vorbei. Eine bessere wirtschaftliche Durchmischung wünschen sich die von Edith Hessenberger und Michael Kasper befragten Jugendlichen, ein breiteres Angebot an Arbeitsplätzen, ein offeneres, liberaleres Klima. Warum ist das im Montafon so viel schwieriger als etwa im Bregenzerwald oder im Rheintal? Ein „Lesebuch“ geht der Frage nicht wissenschaftlich nach, es liefert Splitter, Anregungen, verstreute Einsichten.
Die mögen beispielsweise mit bekannten Zuschreibungen beginnen. Der vielzitierte Volksmund nennt die Montfoner diebisch. Sollten einmal die Staudämme brechen, bekämen die übrigen Vorarlberger alles wieder zurück, heißt es. Sind die Montafoner „aufgeweckter“ und „sauberer“ als die Menschen in anderen Tälern, wie Richard Beitl 1939 vermutete? Sind sie „ungeknechtet, alle feudalistische Leibeigenschaft mit ächtrhätischem Trotze von sich stossend“, wie Franz Josef Vonbun 1868 meinte?

Das Böse in der Hauptstadt

„Völkischer“ Rassismus dieser Art war mit 1945 keineswegs passé. Bizarre Blüten treibt er in den 1950er Jahren. Es geht um die korrekte Schreibung des Talnamens. Franz Vallaster hält die „rätoromanische“ Schreibung „Montavon“ „gerade jetzt für dringlich, ehe unsere Mundart gänzlich verwienert“ – das Böse ortet er also in der Hauptstadt. Sein Kontrahent Richard Beitl – im Rassismus nicht minder geübt - instrumentalisiert für seine Schreibung „Montafon“ den „Daseinskampf des deutschen Südtirols“ und meint: „Einen neuerlichen Romanisierungsversuch lehnen wir Montafoner ab. Das Montafon ist heute ein rein deutsches Land.“ Vallaster findet einen Verbündeten in Landesamtsdirektor Elmar Grabherr, einem ehemals hochrangigen Nazi und engen Mitarbeiter von Gauleiter Hofer. Er unterfertigt 1956 einen Erlass der Vorarlberger Landesregierung, die Schreibweise „Montavon“ zu verwenden. Schon der NS-Diktatur hatten die Montav/foner ja als nicht eben präsentable „Arier“ gegolten. So sollten sie also „rätoromanisch“ sein – nur wollten sie nicht: Grabherrs Erlass führte zu heftigen und nachhaltigen Protesten im Tal.

Wet i d’Höhi ko, muascht d’r etschas gfalla lo

Wieso greift in einer Gegend, die seit jeher von Migration geprägt war, derartiger Unsinn? Migranten aus dem oberen Rhônetal waren nicht nur die Walser, die sich vor 700 Jahren im Montafon ansiedelten. Über Jahrhunderte hinweg machten die Montafoner Migrationserfahrung, als Säumer und Schmuggler oder indem sie alljährlich zum Arbeiten Richtung Deutschland und Frankreich zogen. Hannelore Berchtold präsentiert im „Montafon-Lesebuch“ etwa die aufschlussreichen „Arbeitsbücher“ von Wolfgang Juen und Maria Magdalena Fitsch. Die beiden waren als Tagelöhner in Frankreich unterwegs  – und zwar von der Lorraine bis an die spanische Grenze. „Was hatten sie im Ausland gelernt?“ fragt Lucie Varga in ihrer hellsichtigen Studie 1936 – und antwortet: „Überhaupt nichts! Im Tal führte man unverändert die alten Traditionen fort; kein einziger zeitweiliger Emigrant hat je ein ausländisches Mädchen in die Heimat mitgebracht.“ Leicht machen einem die Montafoner offenbar auch die Liebe auf den zweiten Blick nicht.

Eine der reizvollen Ideen der Lesebuch-Herausgeber – Michael Kasper, Direktor der Montafoner Museen, und Andreas Rudigier, Direktor des vorarlberg museum – ist die Spiegelung geschichtlicher Befunde in der Gegenwart. Wie also sieht es mit der Mobilität heute aus? Die Montafoner fahren noch lieber mit dem Auto als alle anderen Vorarlberger, und sie tun es, obwohl die Wege kürzer sind und sie im Auto länger brauchen als zu Fuß oder mit dem Fahrrad.

Michael Kasper/Andreas Rudigier, Montafon LESEBUCH. Außen- und Innenansicht eines außergewöhnlichen Tals, € 22, ISBN 978-3-901325-60-1, unart produktion, Dornbirn 2012