Musiker:innen aus Südafrika und Kolumbien prägen den besonderen Charakter des Pforte Kammerorchesters Plus. (Foto: Aron Polcsik)
Willibald Feinig · 18. Jun 2014 · Literatur

Lob der Sprache, Glück des Schreibens - Kurze Texte von Karl-Markus Gauß

Wohin mit den großen Nationen? Ihre Macht beruht auf Einheitlichkeit, Monokultur, Rentabilität. Übrigens sagt man nicht mehr Nationen, sondern Volkswirtschaften. Andere stehen an der Schwelle, um ihnen nachzueifern. Sind sie mitsamt ihrer Hochrüstung und Geheimdienste nicht in Wirklichkeit dement und haben die Vielfalt vergessen, die auf ihrem Boden gewachsen ist, wachsen würde, wächst – die Vielzahl an Sprachen, Gewohnheiten, Ökonomien? Das Große ist gefährlich und gefährdet, nicht das Kleine. Uniformität bedroht das Leben, nicht Komplexes.

Ich habe Karl-Markus-Gauß’ Sammlung von Kurztexten, erschienen in dem Salzburger Verlag, der Literatur und Kritik verlegt, die Zeitschrift, die durch ihn zu einem Gewissen und Seminar österreichischer Literatur wurde, fleuron und Mistbeet zugleich; ich habe diese gesammelten Glossen, Essays und Reden eines in Salzburg aufgewachsenen, von Salzburger Germanisten geschulten, jedoch vom Balkan, von sogenannten Donauschwaben stammenden Schriftstellers gelesen mit der Frage im Hinterkopf: Was tut Europa mit seinen Russen? Aus gegebenem Anlass. Mit den Russen in Russland und in den anderen Nachfolgestaaten des sowjetischen Imperiums, darunter der Ukraine?
(Anderswo könnte man Russen ersetzen durch: Briten, Franzosen, Spanier, Saudis, Chinesen,…)
Das Buch mit dem hymnischen Titel „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“ enthält 39 verschieden dosierte Heilmittel für die Krankheit des Alltagsimperialismus, des geistigen, psychischen, wirtschaftlichen und sprachlichen, an der Europa leidet, schon lange, noch immer, schon wieder. Lachen ist auch unter den Medikamenten. Man kann blättern, man wird hängen bleiben an diesen Feuilletons.

Karl-Markus Gauß, Jahrgang 1954, kennt die Minderheiten Ostmitteleuropas, er kommt selbst aus einer. Sein Großvater, ein Banatdeutscher, ist in einem Dorf in Bayern verstummt, nachdem er es in fünf Sprachen, zuletzt auf Ungarisch, zu etwas gebracht hatte (zu einem Koffer voll seit 1945 wertlosem Geld) und der ethnischen Säuberung auf dem von Nazistiefeln zertrampelten sogenannten Balkan durch Flucht zuvorgekommen war.

In ein Labyrinth


Der Titel (vom billigen Layout zu schweigen) führt wie gesagt in die Irre, genauer gesagt, in ein Labyrinth. Hier klopft kein Meister der Essayistik selbstzufrieden auf die Schultern seiner Formulierkunst (wäre ich Karl Kraus, hätte ich manche Präfixierung und Transitivität Gaußscher Verben aufgespießt; an nicht wenigen Stellen schwebte ich im siebten Germanistenhimmel: „Sein Schädel war kahl rasiert, der rechte Unterarm radikal tätowiert, die Lederjacke, die er umgehängt hatte, mit seltsamen Emblemen verziert, und die Dose Bier, die er in seiner Pranke hielt, jede halbe Stunde eine neue“. Kein Rapper und kein Gernhardt könnten es besser. - Der vermeintliche „Kasache“ aus dem Railjet, auch von der Fremdenpolizei für einen solchen gehalten und kontrolliert, entpuppt sich übrigens als alteingesessener fremdenfeindlicher Favoritner.)
Womit wir den roten Faden durch Gauß’ europäisches Labyrinth wieder in der Hand hätten: Er heißt Differenzierung, Differenzierung und noch einmal Differenzierung, und ist gewoben aus dem Stoff, aus dem die Träume sind; aus Sprache, aus Sprachen.
Der Herausgeber des „Buchs der Ränder“ zum Literaturbetrieb, zur Textbranche: Erfolg ist nicht das Gleiche wie Qualität; Unlesbarkeit allerdings auch nicht.

Jede Sprache Grund des Selbstbewusstseins


Als er das Volk der Aromunen porträtierte Protorumänen, in Griechenland als Vlachen verachtet, die eine romanische Sprache mit voll ausgebildeter Grammatik sprechen, in manchen Balkan-Staaten in der Oberschicht vertreten sind, aber nie die Absicht hatten, einen eigenen zu bilden – habe er so viele Zuschriften erhalten wie noch nie. Tenor: Es gehe nicht an, dass er zwecks Verbreitung fragwürdiger Ideen zur Zukunft unseres Erdteils ein eigenes Volk erfinde! (Europa, unentdeckter Kontinent)

Aromunen, Arbëreshe (Alt-Albaner, in Süditalien), Kärntner Slowenen, Roma, Sepharden, Sorben (Lausitz), Ruthenen, Zipser, Zimbern – nicht als Kuriosa, aus Spleen, nicht wegen „Artenschutz“ beschäftigen Minderheiten und Mini-Minderheiten diesen Autor nun schon seit Jahrzehnten, sondern weil die Sprache einer jeden, weil jede Sprache Grund des Selbstbewusstseins ist und Reservoir von Phantasie, Erinnerung, Geschichte(n), Traum und Abenteuer, Lebens-Quell. Solches den Rationalisierern ins Tagebuch. Der Komplexität müde, hätten sie gern, dass schon die Kinderbücher weltweit in commercial english geschrieben wären.
A propos Tagebuch: Übung in diesem Genre, so Gauß, könne zum Lebensersatz werden, also krank machen, aber ebenso die tagtägliche Aufmerksamkeit schärfen; für ihn sei das Tagebuchschreiben so etwas wie die Flucht vor dem Teufel.
Und so weiter. Ein überraschender Ausblick nach dem anderen, auf vermeintlich Altbekanntes wie die Tugend der Toleranz und auf Vergessenes wie das Elend von Tarvis, seit es keine Grenze mehr gibt, und folglich keinen Schmuggel; auf die 1.300.000 Dateien, die angezeigt werden, wenn man in der Suchmaschine Google die Stichworte Sex und Beratung eingibt; auch auf Kopernikus, der Deutscher, Pole und Kaschube war, und Kaiser Tiberius, der Rom für fünfzehn Jahre verließ, um zu dichten.

Russen ist Karl-Markus Gauß übrigens in Riga begegnet, im dortigen Casablanca, nein, im Amsterdam. Wie in der Ukraine machen sie in Lettland einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung aus. Der Kellner war Russe, die Kellnerin Lettin, er rief die Bestellungen auf Russisch in die Küche, sie auf Lettisch. Als „Sex and the City“ im Fernsehen kam, um 23 Uhr, sei es still geworden im Café. Die Dialoge wurden auf Lettisch synchronisiert, die Untertitel waren russisch.

 

Karl-Markus Gauß, Lob der Sprache, Glück des Schreibens, 174 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 19 Euro, ISBN 978-3-7013-1214-6, Otto Müller Verlag, Salzburg 2014