Stefan Rüeschs Werke sind derzeit in der Galerie Sechzig in Feldkirch zu sehen. (Durchblick, Acryl u. Kohle auf Leinwand, 126 x 438, 2020, Foto: Markus Tretter)
Ingrid Bertel · 30. Jän 2013 · Literatur

Lügen und Leben – Interview mit Michael Köhlmeier über seinen neuen Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“

Joel Spazierer ist ein Lügner und Verbrecher, er hat Charme und eine changierende Identität. Er wird 1949 im stalinistischen Ungarn geboren, flüchtet als Siebenjähriger nach Österreich und wechselt fortan die Länder so schnell wie die Hemden. „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ ist nach Michael Köhlmeiers Roman „Abendland“ (2007) sein neuer Versuch, die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts zu erkunden. Ingrid Bertel hat mit dem Autor über das 700 Seiten starke Werk gesprochen.

Dein Romanheld, Joel Spazierer, wächst in einer Familie auf, in der intensiv gelogen wird, und er selbst macht das Lügen zur Maxime seines Lebens. Kann er so gut lügen, weil er so genau die Wahrheit kennt?
Rein logisch gesehen ist eine Lüge ja nur denkbar im Gegensatz zur Wahrheit. In diesem dialektischen Zusammenhang benötigt die Lüge die Wahrheit, um überhaupt als Lüge erkannt zu werden. Ich glaube, je geschliffener und gefinkelter einer lügen kann, umso besser kennt er die Wahrheit. Die Wahrheit ist an den Rändern immer grau und ein bisschen verschwommen, weil man sie ja nicht genau kennt. Aber wenn ich die Lüge definiere und sie dagegen abstecke, dann wird sie ein bisschen klarer.

„Wir alle lügen“, heißt es in der Ansprache des Anklägers. Wird der Wert von Wahrheit gemeinhin überschätzt?
Es wird jedenfalls so getan, als schätze man ihn hoch. Die Wahrheit wird natürlich oft als Machtmittel eingesetzt. Wenn ich zu jemandem sage: Ich möchte, dass du mir unbedingt die Wahrheit sagst, dann meine ich ja auch: Ich möchte dir keinen Bereich einer Intimität lassen. Wenn ich über einen Bereich der Intimität allein verfüge, dann kann ich im Notfall über diesen Bereich lügen. Wenn ich jemandem das Recht dazu abspreche, dann sage ich gleichzeitig: Ich möchte dich okkupieren, ich möchte die Herrschaft über dich erringen.

Ist Lüge nicht das stärkere Machtmittel?
Die Lüge kann auch ein Machtmittel sein, natürlich. Aber sie ist sehr schnell erkennbar, und sie verfügt über keine Legitimation nach außen. Wenn ich aber sage: Ich will nichts anderes als die Wahrheit, dann hab ich eine große Legitimation, weil zumindest in unserem abendländischen Denken die Wahrheit einen ungeheuren Stellenwert hat. Kant etwa sagt: Man muss die Wahrheit immer sagen! Und er spielt das an einem Beispiel durch: Wenn ich die Wahrheit sage und damit das Leben eines Menschen gefährde, sogar dann, meint Kant, muss ich die Wahrheit sagen. Da merkt man den terroristischen Anspruch, den die Wahrheit hat.

„Das Menschsein als solches war mir fremd geworden, weil ich mich nicht mehr als Mensch begriff“


Joel Spazierer ist ein Mann ohne Moral, ausgestattet mit der Bereitschaft zur Gewalt. Was hat Dich an einem solchen Protagonisten gereizt?
Er stellt keine Moral über sein unmittelbares Wohlsein. Er wird zum Verbrecher nicht, weil er von Grund aus einer ist, wie ihm der Staatsanwalt gern unterstellen möchte. Als er das erste Verbrechen begeht, dann das zweite und das dritte, da könnte man von einem nackten Überlebensstandpunkt aus sehr gut in seinem Interesse argumentieren. Was uns erschreckt, ist, dass er kein schlechtes Gewissen hat. Hätte er nach seinen Verbrechen, auch nach den Morden, ein schlechtes Gewissen, dann würden wir ihm Moral zugestehen. Das heißt, die Moral, die wir jemandem zugestehen, bemisst sich gar nicht an der Tat, sondern an der Reflexion über die Tat. Das finde ich schon sehr interessant. Es zeigt eine gewisse Verlogenheit der Moral auf. Der unterwirft sich Joel Spazierer nicht, und zwar nicht, weil er sich dagegen empört, sondern weil es halt seinem Interesse nicht entspricht.
Er ist ein ganz freier Mensch in einem doppelschneidigen Sinn. Er hat die Welt erfahren als eine Welt ohne Menschen. Er war vier Jahre alt, als seine Großmutter und sein Großvater von Stalinisten in Ungarn abgeholt wurden, und er war ganz allein in der Wohnung. Vier Tage und fünf Nächte. In dieser Zeit ist er zum Bewusstsein gekommen: Es gibt keine Menschen. Und dieses Bewusstsein hat er sein Leben lang nie losbekommen.

Gibt es für Dich etwas, das Du als „das Böse“ oder „das Gute“ bezeichnen könntest?
Von der Ferne ja. Dem Bösen und dem Guten geht’s ja umgekehrt wie den Bergen. Je weiter sie entfernt sind, desto mehr wachsen sie. Je näher sie kommen, desto kleiner werden sie. Das hat doch Hannah Arendt über Eichmann geschrieben: Wenn man ihm wirklich begegnet oder ihn vor Gericht sieht, wie er redet, dann schrumpft er zu einem ganz kleinen, mickrigen Mann zusammen. Wenn man die Taten sieht, die er begangen hat, dann nimmt er eine gigantische Größe an. Von Goya gibt’s doch diese Zeichnung von einem Dämon am Horizont, der das Böse verkörpert. Und genau das ist es: Je weiter es entfernt ist, umso mehr wächst es. Und das gilt auch für das Gute.

Joel Spazierer hat große Freude am Geld, und das ist ja etwas weit Verbreitetes. Treibt uns so eine Freude in den Ruin?
Die hat uns ja schon lange in den Ruin getrieben. Die Freude am Geld, die Joel Spazierer hat, ist eine ganz andere, glaub ich. Er tut ja mit diesem Geld fast nichts. Das ist für ihn nur eine Vergewisserung, dass er in dieser Welt lebt. Am Schluss weiß er dann, was er damit tun kann, und er tut etwas sehr Gutes. Er verwendet das ganze Geld, um einem Menschen zu helfen, wobei er ihm hauptsächlich dadurch hilft, dass er ihm Gift besorgt. Ich glaub, dass seine Beziehung zum Geld eine viel neurotischere, psychotischere ist, als wir sie heute haben. Er verwendet das Geld weder um Macht auszuüben oder um im Luxus zu leben, noch um sich Ansehen zu verschaffen. Es weiß ja eigentlich niemand, dass er Geld hat, weil er es ja auf illegale Weise beschafft hat. Er vergräbt’s einfach, auf eine fast seeräuberhafte Art und Weise. Er hat, wie ein Eichhörnchen, einen großen Schatz, über den er nicht verfügt.

„Dass die Seele jung stirbt, dafür spricht einiges; tatsächlich erscheinen mir die meisten Erwachsenen als seelenlose Wesen, selten aber Jugendliche, nie Kinder.“


Beim Lesen dieses Romans klang für mich immer wieder ein sehr populäres Chanson von Georges Brassens an, „Mourir pour des idées“. Darin heißt es sinngemäß: Wenn einer meine, es sei so wunderbar, sein Leben für eine Idee hinzugeben, dann solle er das gefälligst selber tun, statt es anderen zu empfehlen.
Da bin ich schon einverstanden, ja. Bei allem Transzendenten, so sehr mich das fasziniert, bei allen ganz großen Ideen, bei denen man sagt: Dafür lohnt es sich zu sterben – sei es die Freiheit, sei es die Gleichheit –, da sagt man sich doch unwillkürlich: Wofür es sich lohnt zu sterben, dafür lohnt es sich auch zu töten. Es ist das Gleiche. So gesehen ist dieser Roman ein Abgesang. Er kreist ja um das 20. Jahrhundert wie der vorangegangene, „Abendland“. Und am Ende des 20. Jahrhunderts kann man sagen: Wir sind verwaist. Unsere geistigen Eltern, sei’s der Kommunismus, sei’s das Christentum – all diese großen Ideen können uns nicht mehr an der Hand nehmen, weil sie bewiesen haben, sie führen uns irgendwohin, wo es nicht gut ist, wo es kalt ist und wir frieren, wo es feucht ist und wir Hunger haben und schuldig geworden sind.

 

Michael Köhlmeier, Die Abenteuer des Joel Spazierer. Carl Hanser Verlag, München 2013. 25,60 Euro, ISBN 978-3-446-24178-7