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Ingrid Bertel · 27. Jän 2015 · Literatur

Schuld und Verantwortung - „Drei Depeschen gegen den Krieg“ von Michael Köhlmeier

In einer bibliophilen, gerade einmal 28 Druckseiten umfassenden Ausgabe, erzählt Michel Köhlmeier paradigmatische Geschichten. „Drei Depeschen gegen den Krieg“ thematisiert jene Fragen, die uns angesichts der Anschläge auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ beschäftigen sollten.

Zwei der drei Geschichten stammen aus dem Dreißigjährigen Krieg – mit Depeschen, also Telegrammen, können sie also allenfalls das Dringliche des Anliegens gemeinsam haben, vielleicht aber auch die Zurückhaltung eines Berichterstatters, der sich an die Fakten hält statt zu urteilen.
Und das wäre zumal in Fall von John Walker vor allem den amerikanischen Behörden angestanden. Der 1981 geborene Amerikaner war als Sechzehnjähriger vom katholischen zum islamischen Glauben übergetreten. „Er sah um sich herum bestätigt, dass der Westen aus Hedonismus und Geldgier bestand, und dass dieses große Amerika, das sich immer noch als 'promised land' bezeichnete, in Wahrheit nichts mehr zu bieten hatte, was über sich selbst hinauswies.“

Der amerikanische Taliban


John Walker lernte arabisch und wollte in Pakistan religiöse Unterweisung an einer theologischen Hochschule finden. 2001 wurde er in Afghanistan festgenommen und als „amerikanischer Taliban“ berühmt.

Köhlmeier bettet diese Geschichte in einen satirischen Kontext. Ein Freund steht, wenige Tage nach 9/11 im Stau auf einem Highway in Los Angeles, hört Musik und träumt vor sich hin, da stellt er fest, dass er für Ärger sorgt. „Ein Mann packte ihn an den Oberarmen und rüttelte ihn. Die anderen schrien ihn an. Mein Freund fragte, was denn los sei. Er hat einen osteuropäischen Akzent, das kam erschwerend hinzu. Warum er die amerikanische Fahne nicht an seinem Auto habe, wurde er gefragt. Da fiel ihm auf, dass er tatsächlich der Einzige in der langen Schlange war.“
Glück für den Freund, dass in diesem Moment die Nachricht von der Verhaftung des „amerikanischen Taliban“ im Radio gesendet wird. Das zieht die Aufmerksamkeit vom „Fahnenverweigerer mit fremdem Akzent in einem verrosteten Toyota“ ab.

Nach den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo war viel die Rede von europäischer Werteordnung und europäischem Rechtssystem. Es dürfe vor dem Gesetz keinen Unterschied machen, ob einer aus Habgier oder in Gottes Namen morde, Mord sei Mord. Die Täter seien als Mörder zur Verantwortung zu ziehen und nicht als „Gotteskrieger“ zu entschuldigen.
Oberste Prinzipien dieses Rechtssystems sind die Gleichheit vor dem Gesetz, die Menschenwürde, die Menschrechte. Nur dass diese Prinzipien im Falle von John Walker mit Füßen getreten wurden.

„Nur wir sind in der Lage, das Rote Kreuz zu holen. Wer sich weigert, mit uns zu reden, für den können wir nichts tun“, bekam der junge Mann während des Verhörs durch die CIA zu hören. Er war schwer verwundet. Ärztliche Hilfe bekam er nicht. Er bekam auch keinen Anwalt. Nach einem Aufstand der Gefangenen wurde er nackt ausgezogen, mit Klebeband auf einer Bahre angeschnallt, in einen Metallcontainer gesteckt und mit Stacheldraht umzäunt. So wurde er den internationalen Pressefotografen vorgeführt.

Die Taliban – unterstützt von den Regierungen Carter, Reagan, Bush sen.


Während des Gerichtsverfahrens gegen John Walker wandte sich Justizminister John Ashcroft an die Medien und kommentierte, gegen alle Gepflogenheiten seines Amtes, das Verfahren. Da stand der Verteidiger, der einen Freispruch für Walker forderte, von vornherein auf verlorenem Posten. Köhlmeier lässt seine Argumente Revue passieren: „Als sich der Angeklagte den Taliban anschloss, hätten sich die USA nicht im Kriegszustand mit Afghanistan befunden, im Gegenteil – die Taliban hätten die Unterstützung der Bush-Regierung genossen, die dem Regime erst kurz zuvor dreiundvierzig Millionen Dollar zur Verfügung gestellt hatte, damit es den Opiumanbau bekämpfe. Walker habe von der Zerstörung des World Trade Centers gar nichts gewusst; er könne in Wahrheit nur wenig Arabisch und habe sich zu dieser Zeit irgendwo in den Bergen befunden. Die Truppe, der er angehörte, habe nicht gegen Amerikaner gekämpft, sondern gegen die Nordallianz; es habe sich also um einen nationalen und keinen internationalen Konflikt gehandelt, schon gar nicht um einen, in den die USA verwickelt waren.“

Ein Freispruch für John Walker war politisch inopportun. Der Mann wurde zu zwanzig Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt.

Unser Rechtssystem ist das kostbarste Erbe der Aufklärung. Es basiert auf den Menschenrechten und auf dem Fakt, dass der Einzelne für sein Handeln zur Verantwortung gezogen wird. Dieses Rechtssystem ist durch die Anschläge in Paris nicht erschüttert worden. Durch die Art und Weise, wie John Walker misshandelt und verurteilt wurde, ist es erschüttert worden.

Das Handwerk der Freiheit


Unser Rechtssystem ist niemals selbstverständlich. Es wird in jedem Gerichtsverfahren, in jedem Bericht, in jeder Erzählung von Recht und Unrecht neu erworben. Es muss verteidigt werden nicht nur gegen sogenannte „Gotteskrieger“, sondern gegen jeden, der sich im Namen irgendeiner absoluten Wahrheit – und sei sie auch nur auf einer Flagge sichtbar – über die Rechte des einzelnen Menschen hinwegsetzt. John Walker, der Mann mit dem Namen der vermutlich bekanntesten Whisky-Marke, ist dafür ein Beispiel. Und um das Gewicht dieses Präzedenzfalls zu betonen, rahmt ihn Michael Köhlmeier mit zwei Erzählungen aus dem Dreißigjährigen Krieg, aus einer Zeit ohne Rechtssicherheit also.

Rätatätatä

Er erzählt vom „Schwedenkuss“ in Magdeburg und meint damit eine Hinrichtung in jener Stadt, auf die das furchtbare Wort „magedeburgisieren“ zurückgeht, „wie Städtezerstören seit diesen Tagen heißt“. Und er erzählt von sieben Burschen aus Hohenems, die in den Krieg ziehen wollen: „So ist Krieg, rätatätatä, eine Rauferei, nur ein bisschen fester und länger, rätatätatä, dafür kriegt man etwas dafür.“
Man kriegt den Tod, aber der, erzählt Michael Köhlmeier, hält nichts, aber schon gar nichts von dieser Assistenz. „Der Tod, das sei hier gesagt, ist nämlich eigentlich ein natürlicher.“

Michael Köhlmeiers „Drei Depeschen gegen den Krieg“ sind lakonisch, präzise und geradlinig erzählt. Sie sind philosophische Essays ohne alle Prätention – und das ist das Beste, was sich über einen philosophischen Essay sagen lässt.

 

Michael Köhlmeier, „Drei Depeschen gegen den Krieg“, 28 Seiten, € 26,90, ISBN 978-3-7099-7192-5, Haymon Verlag