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Ingrid Bertel · 19. Mai 2015 · Literatur

Vom Bodensee in die homerische Welt - Rüdiger Görners neuer Roman „Nausikaa oder Die gefrorenen Wellen“

In seinem Roman „Nausikaa oder Die gefrorenen Wellen“ erzählt Rüdiger Görner, wie aus dem Lindauer Gymnasiasten Jean Prosser der britische Soldat John Pross wird und was die Londoner Modeszene des Jahres 1938 davon hält.

Rüdiger Görner ist ein bekannter Literaturwissenschaftler. Er hat Bücher über Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl geschrieben. Er hat in London das Ingeborg Bachmann Centre for Austrian Literature gegründet und ist Professor an der University of London. In seinem Roman über die „Wolfszeit“ des 20. Jahrhunderts erzählt er von einem Jungen aus Lindau, der in der Synagoge von Hohenems keine Bar Mizwa feiern kann, der nach London flieht, dort die kapriziöse Modedesignerin Florence und auch sonst eine ziemlich schicke Gesellschaft kennenlernt. Anfangs träumt Jean davon, in den gefrorenen Wellen des Bodensees seinen Namen zu hinterlassen. Am Ende weiß er, das Beste, was das Leben ihm bieten kann, ist der warme Mantel, den ihm, dem Gestrandeten, eine zarte Nausikaa über die Schultern legt.

„Now, seek her!“


Im August 1938 macht Florence mit ihrem Freund Ralph Urlaub am Meer. Beim Essen spielt einer „Il ritorno d’Ulisse in patria“ von Claudio Monteverdi und lässt so das Thema des Romans anklingen: Eine Odyssee ohne Heimkehr.
Mode sei Welt, sagte sich Florence, alles könne in sie eingehen, jedes Zeichen, jedes Wagnis. Nur eines nicht: Zweifel. Mode sei das Zweifellose …“ Dass ausgerechnet Florence solche Gedanken hegt, dieses zerbrechliche Wesen, das ständig Dinge verliert! „Now seek her“ nennt sie Bruder Georg, und das ist ein erster Hinweis auf den Titel des Romans. Ein zweiter liegt in der Skizzenmappe von Florence. „… es war keine Modezeichnung, sondern die Skizze einer Insel. Deutlich sichtbar war darauf eine große, an eine antike Priesterin erinnernde Frau, die dabei war, einem Gestrandeten ein schattenähnliches Gewand umzulegen.“

Die Geschichte der antiken Königstochter Nausikaa mäandriert durch diesen Roman. Was verbindet die Modeschöpferin mit der antiken Gestalt, die als einzige keine Angst vor Odysseus, dem Gestrandeten hat? Neugier vielleicht. „Selbst Neues schaffen, nicht warten, bis die anderen es einem vorführen und damit bestimmen, was neu ist oder abgeschmackt … Man lebt nur durch Möglichkeiten: jede Chance ein Herzschlag. Das war wohl die Wahrheit hinter der Mode.“

Dass ein Mann so über Mode schreiben kann! Die geneigte Leserin ist entzückt – und gleichzeitig schon nach knappen 50 Seiten schockiert. Denn dieses Buch scheint kein Lektor je in Händen gehabt zu haben. Davon zeugen nicht nur zahllose Rechtschreibfehler, sondern vor allem eine bisweilen über die Schmerzgrenze hinaus verschrobene Grammatik. Und das bei einem Autor, der sich einiges auf seine Bildung zu Gute hält.

„Sein Name war ins Wasser geschrieben“


Im Wohnzimmer von Florence blättert ein junger Mann in einem Buch und liest halblaut einen Vers. „... sein Name war in Wasser geschrieben“. Das trifft in mehr als einer Hinsicht auf Jean zu. Er denkt „an seinen großen See zu Hause und den Wunsch, auf ihm schreiben zu können“. Als Johannes ist er in Lindau aufgewachsen, als Jean ist er über Zürich, Antwerpen, Troyes und Paris nach London geflüchtet. Gegen die antisemitischen Anfeindungen hat er sich zuletzt kaum mehr gewehrt. Aber dann, am Tag der Marienprozession auf dem See, am 15. August, wird auf dem Stiftsplatz eine Madonnenpuppe gefunden, angekettet. „Eine große Dornenkrone hing um ihren Hals wie ein zerplatzter Rettungsring. Darüber ein Schild: Johannes Prosser, seinen Lindauern.“ Die Eltern glauben ihrem Sohn, der beteuert, mit dieser Sache nichts zu tun zu haben. Und Krug, der beste Freund des Vaters (und Liebhaber der Mutter) ermöglicht ihm die Flucht. Die Verbindungen Krugs haben eine geradezu sensationelle Qualität: Jean landet in einer noblen Gesellschaft und kapriziert sich als frischgebackener Bloomsburyaner auf „ausgefallene Komponisten“, zum Beispiel auf August Bungert. Aufnahmen von dessen Werk haben auch heute Seltenheitswert. Auf youtube gibt es ein paar Fundstücke, darunter auch eine mit Synthesizer eingespielte Fassung von „Nausikaa“. Als Jean ein Konzert verfemter Komponisten in Wigmore Hall besucht, trifft er auf den von Autogrammjägern umlagerten Stefan Zweig. „Was habe ich nicht alles von ihm gelesen. Wie hat Vater von ihm geschwärmt, hat immer wieder erzählt von der Lesung Stefan Zweigs im Schauspielhaus zu Bregenz.“

Sachte verschlauft Görner die Werte einer brüchig gewordenen bildungsbürgerlichen Welt und reichert sie an mit Details aus der versunkenen Welt jüdischer Landgemeinden am Bodensee. Denn Jean kämpft mit Erinnerungen gegen das Zerbrechen seiner Identität, den Verlust der eigenen Geschichte. Er fühlt sich verloren in London, dieser „Stadt als Meer, das für das Vergessen wie geschaffen schien“ und beschwört die Deckengemälde der Synagoge von Hohenems herauf. Sie bedeuten ihm das Heilige, „nicht der Ritus, nicht der Thoraschrein, nicht das Vorlesen aus den heiligen Rollen. Und doch: Hätte sie nur stattgefunden damals, anno 1933, seine Bar Mizwa … Vielleicht hätte er dadurch jetzt einen Standpunkt, eine Überzeugung anstelle rotierender Träume.“

 

Rüdiger Görner, „Nausikaa oder Die gefrorenen Wellen“, Hardcover, 304 Seiten, € 22,–, ISBN 978 3 85449 432 4, Verlag Sonderzahl, Wien 2015