Derzeit in den Vorarlberger Kinos: The Zone of Interest (Foto: Filmcoopi Zürich)
Fritz Jurmann · 24. Nov 2012 · Musik

„Wie im Himmel“ zwischen Kabarett und Musical – In der neuen Produktion des Spielbodenchores wird dem Vorarlberger aufs Maul geschaut

Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Da stecken sicher ungeheuer viel Ambition, Ideen und auch monatelange konsequente Arbeit in diesem neuen Projekt des Dornbirner Spielbodenchores mit dem verheißungsvollen Titel „Wie im Himmel – Ein Blick über das Land“. Der Chor leistet in einer kurzweiligen Collage zwischen Kabarett und Musical mit Rap- und Breakdance-Einlagen eine Stunde lang mit durchwegs auswendig gesungener aktueller Chorliteratur aus Vorarlberg samt ausgefuchster Choreografie tolle Aktionen, doch die textliche Konzeption mit Seitenhieben auf allzu lieb gewordene Vorarlberger Gewohnheiten bleibt leider manchmal in altbackenen Klischees stecken.

Das Publikum stürmt geradezu die Premiere am Freitag am Spielboden. Und muss zunächst auf kleinen Hockern Platz nehmen, wird erst später auf die Tribüne verfrachtet. Das ist bereits Teil eines raumgreifendes Regiekonzeptes, für das Daniela Egger ebenso verantwortlich zeichnet wie für das Libretto, das sie aus über 40 Interviews mit Menschen verschiedenster Art und Herkunft in Vorarlberg herausfilterte.

Daraus sind Auftragskompositionen von Bettina Rein („Chor der Toten“, „Zukunftschor 2“), Herwig Hammerl („Chor der Fremden“), Rolf Aberer („Alltagschor“) und Hildegard Großsteiner-Frei („Zukunftschor“) entstanden, die samt bestehendem Material von Gerold Amann (der gruselige „Totenjuchzer“ aus „Goggalori“) und Ulrich Gabriel (das toll verfremdete „O Hoamatle“) das Gerüst des Abends bilden – durchwegs im zeitgeistig aktuellen Chorgewand gestrickt und nicht eben einfach zu interpretieren.

Pseudo-„Vater unser“ im „Chor der Toten“

Der Titel „Wie im Himmel“ bezieht sich übrigens nicht auf den gleichnamigen schwedischen Kultfilm von Kay Pollak (2004), sondern auf ein Pseudo-„Vater unser“ im „Chor der Toten“, mit dem die Sängerinnen und Sänger aufmarschieren: „Dein Markt komme, Dein ewiges Wachstum geschehe, wie im Himmel, so in Vorarlberg. Unsere täglichen Wünsche erfülle uns heute und vergib uns unsere Gier, wie auch wir vergeben uns unsere Schulden. Und führe uns nicht zum Denken, sondern erlöse uns von der Langeweile.“

Das klingt alles doch etwas sehr konstruiert, populistisch und nicht eben lustig, ohne die feine Klinge der Ironie. Kritisches Hinterfragen des eigenen Standpunktes bleibt oft in Ansätzen stecken oder wirkt zu lehrhaft, mit erhobenem Zeigefinger, oder zu antiquiert mit Themen, wie sie schon die legendären „Wühlmäuse“ in den Siebzigern und Achtzigern weit bissiger abgehandelt haben. Der Aufbruch der Jugend damals, Stichworte „Flint“ und „Twist-Verbot“, lässt sich eben nicht 1:1 ins Heute übertragen, auch nicht von jener schon leicht ergrauten Generation, die damals vielleicht aktiv dabei war und diese Zeit nun mit nostalgischer Wehmut besingt.

Klischeehaft und nicht besonders Ländle-typisch wirken auch Lieder wie Rolf Aberers „Alltagschor“: „Jederzeit erreichbar sein, täglich mehrmals Mails abfragen, Radio Vorarlberg, einmal in der Woche miteinander schlafen – ah, ah, ah“… Das hat man andernorts schon origineller erlebt.               

Der Funke springt bei Rap und Breakdance über

Entsprechend zäh verläuft der erste Teil. Der Funke springt erst über und wird am Schluss zum Orkan, als man sich der Jugendkultur von heute bedient: der Rapper E.S.I.K. im Schutzanzug mit Unterstützung des Chores sein „Scheißegal“ ins Publikum schleudert und dabei auch den brennend aktuellen Skandal um den mit Hühnermist gedüngten Wälderkäse nicht ungeschoren lässt, sein Kollege D.A.R.I.O „Die Freiheit im Geist“ („warum hier alles immer nur um Geld kreist“) besingt. Und erst Recht, als die vielfach hoch gelobte Dornbirner Breakdance-Gruppe „BPM Crew Westend“ mit ihren unglaublichen Kunststücken samt Choruntermalung punktet.

Auch eine Ansammlung von nur bildproduzierenden TV-Geräten mit sprechenden oder singenden Mündern in Großaufnahme wirken als starke Symbole für die Sprachlosigkeit unserer Welt (Bühne: Kirsten Helfrich) und garantieren ein spannendes Simultanerlebnis für die Zuschauer. Zum intellektuellen Schmankerl wird in diesem Umfeld eine brillante Sprechnummer zum Thema „Hausnamen“ in Vorarlberg, in der sich die vier Gruppen des Chores mit jeweils einem Sprecher in einem typischen Ländle-Dialekt gegenseitig zu überbieten versuchen. Da kommt der Wortwitz voll rüber, im Singen dagegen wirkt manches weit weniger präsent, weil ein Chor auch bei bester Sprechdeutlichkeit wie in diesem Fall doch ein zu schwerfälliges Instrument ist.

Actionreiche Chorperformance

Als eigentlicher Chor hat es der Spielbodenchor allein von den äußeren Anforderungen an diesem Abend nicht leicht. Er bildet zunächst einen Kreis um die Zuhörer, bunt gemischt ohne Zuordnung von Stimmgattungen, beschallt das Publikum in einer Art Kinosound aus 21 weiblichen und 16 männlichen Stimmen in Dolby-Sorround, in Bewegung und im Takt gehalten mit riesigen Zeichen von Chorleiterin Bettina Rein. Später hat der Chor während des Singens auch in allerlei Gegenbewegungen zu marschieren (Choreografie: Massimo Aspirante) oder in vier Stimmgruppen an den Eckpunkten im Saal gegeneinander zu singen.

Alles Dinge, die einen bewegten und interessanten Ablauf des Programms garantieren, aber auf solche Distanzen eine wirklich präzise und saubere Chorarbeit nur schwer möglich machen. Und das fast alles auch noch A-cappella, also ohne jede instrumentale Unterstützung. Es ist einfach die Frage, was hier wichtiger ist: mit toller Action zu punkten oder mit hoher musikalischer Qualität – beides geht nicht.

Ich habe vor einem Jahr in einer Konzertkritik geschrieben, der Spielbodenchor würde vermutlich keinen Blumentopf für Klangschönheit, Präzision und Intonationssicherheit gewinnen, dafür aber in anderen Kategorien wie Authentizität, Spontaneität und Motivation. Nach diesem Abend am Spielboden kann ich meine Meinung insofern revidieren, als der Spielbodenchor den Blumentopf diesmal als momentan sicherlich innovativster, bewegungsreichster und spielfreudigster Chor im Land gewinnen sollte. Und das ist doch immerhin etwas, worauf die Sängerinnen und Sänger und ihre Chorleiterin nach diesen anstrengenden Wochen stolz sein dürfen.

Weitere Aufführungen am Dornbirner Spielboden: Samstag, 24. November, und Dienstag, 27. November, jeweils 20.30 Uhr – Dauer eine Stunde