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Fritz Jurmann · 24. Jul 2014 · Musik

Bombenerfolg für Festspielpremiere - „Nali“ Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ nach Ödön von Horváth als beklemmend dichtes Musikdrama

Mit allen Anzeichen eines internationalen Kulturevents ging am Mittwochabend die Premiere der Hausoper der Bregenzer Festspiele über die Bühne. In der damit zu Ende gehenden Reihe von Opern-Uraufführungen, die der scheidende Intendant David Pountney mit viel Mut und feinem künstlerischen Gespür konzipiert hat, hinterlässt die vom Wiener Multitalent HK „Nali“ Gruber vertonte Version von Ödön von Horváths bedeutendem Theaterklassiker „Geschichten aus dem Wiener Wald“ nach der bereits legendären „Passagierin“ von 2010 den stärksten Eindruck. Grubers Musikdrama ist ein erstklassiges Stück Gegenwartskunst, rangiert imponierend auf der Höhe der Zeit, ohne den Zuhörer zu verschrecken. Eine exzellente Besetzung mit prominenten Namen und die auf Topniveau musizierenden Wiener Symphoniker unter Leitung des Komponisten sorgten trotz der blassen Regie von Michael Sturminger für einen atmosphärisch ungemein dichten, beklemmenden Abend, wie man ihn sich für den Start eines so ambitionierten Kulturfestivals nicht besser gewünscht hätte.

Bittere Satire auf das Spießertum


In diesem Stück wollte der deutsch schreibende Ungar Ödön von Horváth (1901 - 1931) aufgrund gesellschaftskritischer Einflüsse in der Zwischenkriegszeit das biedere, als unantastbar geltende Volksstück infrage stellen und damit demaskieren. Er entlarvte schonungslos die Dummheit und Gerissenheit der Kleinbürger und Spießer in einer bitteren Satire über das vordergründig so gemütlich scheinende Duliöh-Wien mit seinen Operetten und Heurigenfilmen, wo hinter einer intakten Fassade manche Hinterfotzigkeit gedeiht.

Horváth selbst hatte sich für eine Vertonung seines 1931 in Berlin uraufgeführten, bis heute präsenten Erfolgsdramas ausgesprochen und dafür den Komponisten Kurt Weill ins Auge gefasst, der Bert Brechts „Dreigroschenoper“ zum Welterfolg veredelt hat. Doch mit Weill klappte es nicht, dafür hat der 71-jährige Wiener Komponist, Dirigent, Chansonnier und Schauspieler Heinz Karl Gruber acht Jahrzehnte später im Auftrag der Bregenzer Festspiele diese Aufgabe übernommen. In einem dreieinhalb Jahre dauernden, bemerkenswerten physischen und geistigen Kraftakt wurde das Werk, wenn auch mit einjähriger Verspätung, zum überzeugenden Ende gebracht. Kein Wunder, gilt doch für manche dieser „Nali“ Gruber in seiner liebenswert eigenwilligen Kauzigkeit nichts weniger als eine Art Weill unserer Zeit, als einer der originellsten, seit seinem „Frankenstein!!“ (1978), längst international gehandelten Köpfe der aktuellen Musikszene. Weil er Kunst nämlich ohne jedes Schubladen- und Scheuklappendenken in der Kombination von Populärem und Avantgardistischem in einem ganz und gar universellen Sinn betrachtet.

Horváths Doppelbödigkeit auch in der Musik


Faszinierend, mit welch feinem Gespür und mit welcher Perfektion es HK Gruber dabei gelungen ist, Horváths Doppelbödigkeit einer trügerischen Idylle mit seinen musikalischen Mitteln darzustellen. Er präsentiert frech gemixte Klänge aus Elementen der Wiener Volksmusik, von Jazz, Swing und Kabarett mit sehr viel Gespür für Wirkungen, Effekte und Überraschungen, die zwar oft an der Grenze der Tonalität streifen, diese aber nie überschreiten. Er scheut sich auch nicht, in dramatischen Momenten das Orchester mit viel Schlagzeug und Blech in die Vollen greifen zu lassen, findet daneben aber in stillen Momenten und Zwischenspielen auch zu wunderbar transparent ausbalancierten, duftigen Klängen.

Der Schalk im Nacken treibt ihn an, wenn er als mahnendes Zitat immer wieder den Strauß-Walzer „Geschichten aus dem Wiener Wald“ auf einem total verstimmten Klavier samt charmant eingebauter Fehler klimpern lässt, wenn der „Donauwalzer“ auf einem gequäkten Saxophon aufheult oder das berührende Lied von der Wachau die Tristesse der Szene deutlich macht. Die Figuren und Situationen erhalten eine klare Charakteristik in der oft melodramatisch wirkenden musikalischen Umsetzung, bei der, wie immer bei Gruber, das Wort im Vordergrund steht.

Die Grundsatzfrage, ob dies nun wirklich noch eine Oper ist oder vielmehr ein vertontes Schauspiel, ist weniger entscheidend als der Einwand, dass dabei vieles von der sprachlichen Schärfe des zugrunde liegenden Originals auf der Strecke bleiben musste. Denn natürlich ist Michael Sturmingers Libretto schon aus praktischen Gründen bloß eine Art Readers-Digest-Version. Da wird zwar manches angesprochen wie die Rassendiskriminierung, ohne es aber weiter auszuführen. Andererseits aber verstärkt die Musik auf jeden Fall auch bestimmte Situationen, Stimmungen, Charaktere, wird damit in einer neuen Ästhetik auf einer weiteren künstlerischen Ebene erlebbar gemacht.

Pikantes Bäumchen-wechsle-dich-Spiel


Sie sind ein seltsam ungleiches Paar, der feiste, widerliche Fleischermeister Oskar  und die zierliche Marianne, das „süße Wiener Mädel“ – zwei, die erst am Ende des Stücks als letzten Ausweg und eigentlich gegen ihren Willen wieder zusammenfinden, wo er sie nach ihrem Zusammenbruch in einem Schlussbild, das lange im Kopf hängen bleibt, wie eine Beute von der Bühne trägt. Dazwischen steht eine Reihe verstörender Irrungen und Wirrungen, auch ein teils sehr amüsantes und pikantes Bäumchen-wechsle-dich-Spiel bis zum (zart-)bitteren Ende. Denn Marianne flieht am Tag ihrer Verlobung mit Oskar in die Arme des Hallodri Alfred und bekommt von ihm ein Kind. Schon nach einem Jahr stellt sich heraus, dass Alfred nicht familientauglich ist. Er schickt Marianne zum Geldverdienen ins Kabarett und das Kind zu seiner Mutter in die Wachau, wo es die Großmutter (beängstigend großartig: die ehemalige Wagner-Heroine Anja Silja) so lange dem Luftzug aussetzt, bis es stirbt. Marianne will die Großmutter dafür mit deren Zither erschlagen – die Zither spielt im titelgebenden Strauß-Walzer eine entscheidende Rolle.

Wenn Komponisten bei einer Uraufführung ihre eigenen Werke dirigieren, wird das zumeist zu Glücksfällen an bis zuletzt ausgetüftelter Authentizität an Balance und peniblem Feinschliff. Auch bei Gruber, der dem exzellent agierenden Sängerensemble oft wunderbar sangliche Melodien geschenkt hat und nun seine Protagonisten geradezu auf Händen trägt. Da wird niemand jemals vom Orchester „zugedeckt“, weil die Sänger durchwegs „Stimme“ haben und weil es auch so  sorgsam und gekonnt instrumentiert ist. Auch von dem ihm auch persönlich verbundenen Orchester der Wiener Symphoniker (schließlich war er früher im Brotberuf selbst Kontrabassist) erhält „Nali“ alles Erdenkbare an Einsatzfreude, Farben und Virtuosität – einfach großartig!

Sänger leisten Unglaubliches


In der Einstudierung und Ausführung der rhythmisch oft sehr komplexen Vorlage leisten die Sänger Unglaubliches und zeigen sich dabei auch schauspielerisch durchwegs auf der Höhe. Ilse Eerens als Marianne zeigt enorme Wandlungsfähigkeit, bricht aus dem strengen Moralkorsett ihres Vaters aus, überrascht stimmlich mit unglaublicher, nie schriller Höhe. Jörg Schneider als Oskar kommt in seiner Darstellung dem Bild, das Helmut Qualtinger in der berühmten ORF-Verfilmung des Dramas 1961 gezeichnet hat, sehr nahe. Daniel Schmutzhard als Alfred ist ein liederlicher, baritonal präsenter Tunichtgut, Angelika Kirchschlager die Idealbesetzung als ältere Freundin und verlassene Geliebte Valerie, ungemein glaubhaft in ihrer Ausdruckskraft und in der Bewältigung ihres musikalischen Riesenpensums.

Die weiteren größeren und kleineren Rollen des personalintensiven Stücks ergeben ein gerundetes Ganzes: Albert Pesendorfer als Zauberkönig, Anke Vondung als Mutter, Michael Laurenz als Student Erich und Valeries Geliebter, Markus Butter in einer auch optisch beeindruckenden Szene vor allem als mahnender Beichtvater (ein Seitenhieb auf die strengen Moralvorstellungen der Kirche in jener Zeit), David Pittman-Jennings als Mister, Alexander Kaimbacher als Freund Ferdinand und Robert Maszl als Metzger-Gehilfe Havlitschek. Bestechend die Stimmkraft des  Vokalensembles NOVA, beeindruckend das gekonnte Feeling einer Combo aus dem Jazzorchester Vorarlberg. Die Regie Michael Sturmingers bleibt höchst konventionell, da hätte man sich ein paar kräftigere Akzente erwartet. Dank eines ebenso variablen wie in die Gegenwart reichenden Bühnenbildes (Renate Martin und Andreas Donhauser), ins Licht gesetzt von Olaf Winter, greifen die vielen Szenen nahtlos ineinander und ergebenden einen stringenten Ablauf ohne Längen und Leerläufe.

Uraufführung in Bregenz statt in Wien


Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass dieses im Grunde doch so urwienerische Stück in seiner musikdramatischen Umsetzung nicht in Wien, sondern am anderen Ende Österreichs uraufgeführt wurde – Pountneys Weitsicht und Mut sei Dank. Das Theater an der Wien wird als Koproduzent diese Produktion unverändert im März 2015 herausbringen. Der enorme Publikumserfolg der Premiere vom Mittwoch dürfte ihr dabei mit Sicherheit treu bleiben: Zehn Minuten Applaus und Bravos von beachtlicher Intensität, der im Besonderen „Nali“ Gruber galt, dem Leading Team und in der Besetzung Anja Silja (Großmutter), Ilse Eerens (Marianne), Angelika Kirchschlager (Valerie) und Jörg Schneider (Oskar).


Weitere Aufführungen: So, 27. Juli und So, 3. August, jeweils 11.00 Uhr, Festspielhaus – Dauer ca. drei Stunden mit einer Pause
Fernseh-Aufzeichnung: So, 27. Juli, 20.15 Uhr, ORF III