Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Silvia Thurner · 12. Nov 2012 · Musik

Die Tragik und der Schelm in einem bewundernswerten Ausgleich zueinander – Kirill Petrenko und das Symphonieorchester Vorarlberg interpretierten Mahlers Vierte

Jene Konzerte, bei denen Kirill Petrenko am Pult des Symphonieorchesters Vorarlberg steht, sind Höhepunkte der Saison. In den vergangenen Jahren profilierten sich der charismatische Kirill Petrenko und das SOV mit den Werkleitungen der ersten drei Mahler-Symphonien. Deshalb wurde die Interpretation der Vierten mit Freude erwartet. Die Deutung dieses doppelbödigen Werkes, das an die MusikerInnen enorme Anforderungen stellte, war herausragend. Vor allem die durch die Symphonie hindurch gehaltene orchestrale Zurückhaltung bewirkte eine enorme innere Spannung. Mahlers Kindertotenlieder mit dem Bariton Johannes Martin Kränzle ließen jedoch Wünsche offen.

Gustav Mahlers vierte Symphonie ist durch ihre Doppelbödigkeit und Ambivalenz in der musikalischen Anlage sowie der Themenführung ein ausgefallenes Werk. Ständig changiert die Musik zwischen Ernsthaftigkeit und Humor, naiver Gutgläubigkeit und grotesken Anspielungen. Kirill Petrenko und die MusikerInnen des SOV haben sich viel Zeit für die Probenarbeit genommen. Auch deshalb gelang es ihnen auf bewundernswerte Art, Mahlers hintergründige kompositorische Gedankengänge an die Oberfläche zu kehren. Mit permanenter Zurückhaltung und doch überaus elastischem Gesamtklang führte Kirill Petrenko die Orchestermusiker, so dass die musikalische Wirkung voll entfaltet wurde. Die ständigen Abbrüche und Neuordnungen der Themen und Motive sowie Variantenbildungen erklangen im Bregenzer Festspielhaus mit einer federnden Leichtigkeit. Auf diese Weise erhielten die teilweise sarkastisch ausformulierten musikalischen Gedanken genau ihren spezifischen Stellenwert innerhalb des Gesamtgefüges. Lediglich die "fratzenhaften Züge des Totentanzes" mit der höher gestimmten Solovioline habe ich mir in der Klanggebung schärfer ausformuliert vorgestellt.

Mitreißend

Detailreich und mit einer Pianokultur, die nur unter der Leitung von Kirill Petrenko in dieser Intensität zu erfahren ist, gestaltete das Orchester Mahlers heitere, aber nicht unernste Symphonie. Viel gäbe es über die Phrasierungen und Artikulationen einzelner musikalischer Gedanken zu sagen. Hervorragend musizierten die Orchestermusiker, allen voran die oft kammermusikalisch eingesetzten und solistisch agierenden Holz- und Blechbläser. Auch die Streicher spielten bestens disponiert und man spürte das Einverständnis zwischen Kirill Petrenko und den MusikerInnen. Den Vokalpart im Finale sang Letizia Scherrer mit ihrer klaren und in sich abgerundeten Stimme. Sie führte die Linie in einem guten Austausch mit dem Orchester. Obwohl die Sopranistin wenig textdeutlich artikulierte, war die Mehrdeutigkeit der Textvorlage gut nachvollziehbar. Verstärkt wurde diese auch durch die Schellenmotive und grellen Einwürfe des Orchesters zwischen den Strophen. Viel Zeit ließ sich das SOV, unterstützt von Mitgliedern der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz, für das allmähliche Ausklingen der Musik. Bis zum letzten Ton im Pianissimo erklangen die Klangfarben gut ausbalanciert.

Enttäuschend

Gustav Mahlers Kindertotenlieder sind in der musikalischen und orchestralen Ausgestaltung eher kammermusikalisch angelegt. Die OrchestermusikerInnen entfalteten eine enorme Vielfalt an unterschiedlich abgestuften Linien und Farben, die ineinander übergeführt wurden. Besonders schön kamen harmonische Aufhellungen in den Streicherparts zum Ausdruck, so dass trotz der Tristesse in den Liedern immer wieder aufleuchtende Lichtblicke hörbar wurden. Der schreitende Duktus und der wiegende Charakter sowie das Fundament und die schubartig angelegten Passagen in den Liedern „Wenn dein Mütterlein“, „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen“, und „In diesem Wetter, in diesem Braus“ zeichneten die Werkdeutungen aus.

Johannes Martin Kränzle verfügt über beste Referenzen, allerdings enttäuschte er als Interpret der Kindertotenlieder. Auch wenn man bedenkt, dass die Lieder in sich gekehrte melodische Gedanken ausformulieren, wirkte der interpretatorische Zugang des Baritons wenig schlüssig. Seine Stimme führte er vor allem in höheren Lagen eher angestrengt und eine übergeordnete Linie fehlte weitgehend.

Eine Bereicherung für alle

Das Projekt “Mahler 9x9“ trägt den Erfolg in sich, denn sowohl der Dirigent als auch das Orchester und die Zuhörenden profitieren davon.  Kirill Petrenko erhält ein Orchester, das mit ihm gemeinsam das Abenteuer der Interpretation eingeht und überdurchschnittlich viel Zeit dafür aufwendet. In Zusammenarbeit mit dem charismatischen Dirigenten Musik zu gestalten und unverwechselbar zum Klingen zu bringen, ist wiederum eine große Bereicherung für das Orchester.