Tobias Grabher, die Camerata Musica Reno und Michael Köhlmeier bescherten dem Publikum ein „österliches Cineastenfest“.
Fritz Jurmann · 11. Okt 2014 · Musik

Emotionale Tragweite und brillante Strahlkraft – Mit Webbers Musical „Evita“ hat das MTVO dem Musical neue Dimensionen erschlossen

Da hat doch das bis in die Haarspitzen motivierte Musiktheater Vorarlberg zum zweiten Mal innert zwei Jahren einen Quantensprung geschafft! Wurde 2012 mit Mozarts „Don Giovanni“ im Bereich Oper erstmals absoluter Profistatus erreicht, so ist das mit „Evita“ von Webber jetzt auch im Bereich Musical eingetreten. Dass in beiden Fällen mit der Deutschen Barbara Schöne eine Regisseurin von Ausnahmeformat am Werk war, ist kein Zufall. Die „Evita“-Premiere wurde am Freitag in der ausverkauften Götzner Kulturbühne AmBach mit Standing Ovations bejubelt.

„Evita“ – das ist die mit einigen künstlerischen Freiheiten und Überhöhungen erzählte Lebensgeschichte der aus einfachen Verhältnissen stammenden Filmschauspielerin Eva Duarte, die als Gattin des argentinischen Diktators Juan Perón zur ebenso umjubelten wie letztlich auch umstrittenen Figur in der jüngeren politischen Vergangenheit Argentiniens in den vierziger Jahren wurde. Das Musical beginnt mit der Meldung von Evitas Tod, der lautstark betrauert wird, gleich einmal auch mit dem Lied „Don’t cry for me, Argentina“, der sich fortan wie ein roter Faden durch die Handlung zieht, bis die Hauptfigur am Schluss quasi ein zweites Mal stirbt. Eine Art Requiem also.

Peróns Mätresse aus dem Bett geworfen


Die Rückblende dazwischen beginnt mit Evita als junge Frau im roten Kleid mit weißen Tupfen, Ausschau haltend nach Glück und Erfolg in einer harten Zeit. Da kommt Perón gerade recht, der Diktator, dem sie gleich einmal die Mätresse und deren Liebhaber aus dem Bett wirft und sich so gekonnt in Szene setzt, dass es mit der Zeit zu einer Art Heiligenverehrung durch das Volk kommt. Durch die erfundene Figur des Che, bei der man an Che Guevara denkt, als Revolutionär, eine Art Gegenspieler, als „Stimme des Volkes“ und Erzähler der Handlung werden freilich die auftretenden sozial- und gesellschaftskritischen und klassenkämpferischen Aspekte artikuliert. Als Evita sich immer stärker auch in politische Entscheidungen einmischt, u. a. in Verstrickungen mit dem Naziregime in Deutschland, entfernt sie sich immer mehr von ihrem Volk und stirbt schließlich – wieder mit diesem Lied auf den Lippen, dem einzigen Song übrigens aus dem Stück, der (durch den Film mit Madonna) wirklich allgemein bekannt wurde.

Die Regie von Barbara Schöne weiß diese Geschichte mit solcher Fantasie und zwingender innerer Logik zu transportieren, dass die Spannung um das Schicksal einer starken Frau, die genau weiß, was sie will und das auch durchsetzt, auch über zwei Stunden lang nicht abreißt. Da macht sich bezahlt, dass Schöne sich intensiv in diesen Stoff eingelesen hat. Sie wird spielend fertig mit den bühnentechnischen Unzulänglichkeiten auf der Kulturbühne AmBach, wo alles etwas beengt ist und ohne Schnürboden für rasche Verwandlungen funktioniert, auch dank einer gut eingespielten Lichtregie (Philipp Wohlgenannt, Mathias Laucht). Für das Verstehen der englischen Originalversion sorgt im Übrigen eine deutsche Übertitelung.

Schönes gekonntes Handwerk, gepaart mit Einfallsreichtum, kommt mit einfachen Fenster-Attrappen und zwei variablen weißen Quadern als Versatzstücke auf der Bühne aus und macht dafür mit Schwarz-Weiß-Bildern der originalen Personen und Situationen auf einer Vidi-Wall im Hintergrund und mit liebevoll originalgetreuen Kostümen und Frisuren (Emilia Gil Rodriguez u. a.) das Geschehen authentisch. So gelingen zauberhaft poetische Bilder, etwa von der Beerdigung mit den Regenschirmen oder der berühmten Balkonszene. Und die als „Reise nach Jerusalem“ inszenierte Präsidentenwahl mit jeweils einem Stuhl zu wenig erinnert frappant an die Vorkommnisse bei der Konstituierung unserer schwarz-grünen  Landesregierung.

Profis aus der internationalen Musicalszene


In deren Umsetzung kann die Regisseurin in der Besetzung der Hauptpartien auf routinierte und ambitionierte Profis aus der internationalen Musicalszene zählen, die rein stimmlich über die notwendige Power und Sprechdeutlichkeit verfügen. Die in Richtung Pop und Schlager tendieren und im Timbre absolut nichts mit Opern-Attitüde oder Operetten-Tremolo am Hut haben. Das ist wohltuend und erforderlich in diesem Genre. Für die Österreicherin Sophie Eder etwa bedeutet die anspruchsvolle Titelrolle ein Debüt. Sie weiß die unglaubliche Wandlung vom lebenshungrigen Mädchen zur Diva im eleganten schneeweißen Tüll sängerisch wie schauspielerisch überzeugend darzustellen, bis zur finalen Sterbeszene, die großen Mut zur Hässlichkeit erfordert.

Erschreckend die stoische Kaltblütigkeit und Brutalität, mit der Christoph J. Goetten seinen machtgierigen General Perón ausstattet – ein Macho in weißer Galauniform mit Goldsteifen am Ärmel, dem man in jedem Moment anmerkt, dass er über Leichen zu gehen gewillt ist. Wohl die größte Bühnenpräsenz weist Martin Werth als Che auf, ein ebenso gerissener wie charmanter Widersacher. Florian Hinxlage gibt als Tangosänger Magaldi im weißen Kostüm samt Tolle eine (zu) frühe Elvis-Kopie, Sara Schöpf als Mistress überrascht mit einer schön gesungenen Abschiedsballade.

Die Musik für sein 1978 vollendetes Musical, das als eines seiner besten Werke gilt, hat Andrew Lloyd Webber mit viel südamerikanischem Kolorit ausgestattet, mit Tango-Rhythmen, Salsa und Mambo und seinen berühmt sehnsüchtigen Melodien, die dann irgendwo im Hinterkopf als Ohrwurm hängen bleiben. Seine Einfälle werden aber auch der Dramatik des Bühnengeschehens gerecht, mit schweren Molltönungen und deutlichen Reibungen, und charakterisieren bestimmte Personen und Handlungen. Die ausgefuchste Instrumentierung hat teils bei der „West Side Story“ des großen Leonard Bernstein Maß genommen – nicht das schlechteste Vorbild!

Musik in besten Händen


Bei Nikolaus Netzer am Pult und seinen wunderbaren Musikern vom Orchester des MTVO ist diese schillernde Partitur in besten Händen. Ein Blick in den Orchestergraben zeigt freilich, dass für deren Umsetzung nichts mehr so ist, wie es einmal war beim Musiktheater Vorarlberg. Das gewohnte Opern-, bzw. Operettenorchester ist auf rund zwei Drittel geschrumpft und hat einer Pop-Band mit Schlagzeug-Batterie, Percussion, E-Bass und Gitarre, drei Keyboards und Akkordeon Platz gemacht, die alle über eine riesige Anlage im Saal in einem satten, aber nicht zu lauten und gut gemischten Sound ausgesteuert werden (Martin Biegger). Auch die logischerweise mit Headsets ausgestatteten Solisten sind darin integriert.

Die Königsidee aber war es, für diesen Anlass 30 Sängerinnen und Sänger vom Landesjugendchor „VOICES“ als so genannten „Booth-Chor“ im Orchestergraben anzuheuern, ähnlich wie das bei der Seeproduktion der Bregenzer Festspiele geschieht. Man sieht sie nicht, dafür hört man über die Anlage umso wirkungsvoller  ihre frischen, sauberen Stimmen mit dem bereits unverwechselbaren Klang. Oskar Egle hat da wieder für eine perfekte Einstudierung der nicht einfachen Vorlagen gesorgt. Auf der Bühne selbst agiert routiniert der Chor des Musiktheaters, wie immer betreut von André Vitek. Das Militär marschiert unter „Offizier“ Mathias Türtscher exakt wie Zinnsoldaten auf. Die Tanzeinlagen kommen von jungen Burschen und Mädchen, die ausschauen wie Milch und Blut und sich in einer Choreographie von Barbara Schöne barfuß vor Begeisterung schier die Seele aus dem Leib tanzen.

In Summe also eine Inszenierung von starker emotionaler Tragweite, brillanter Strahlkraft und musikalisch auf Top-Niveau. Unser Tipp: Karten besorgen, solange es noch welche gibt!

 

Weitere Vorstellungen von „Evita“ beim Musiktheater Vorarlberg:
So, 12., Mi, 15. und So, 19. Oktober, jeweils 18.00 Uhr; Do, 16. und Sa, 18. Oktober, jeweils 19.30 Uhr
Kulturbühne AmBach, Götzis
www.mtvo.at