Fouad Boussouf mit einer österreichischen Erstaufführung des Stückes „Fêu“ zu Gast beim „Bregenzer Frühling“ (Foto: Antoine Friboulet)
Fritz Jurmann · 10. Jun 2012 · Musik

Geschlachteter Kanarienvogel und eine nicht standesgemäße Beziehung: Das Feldkirch Festival landet mit der Kammeroper „Fröken Julie“ nach Strindberg einen beachtlichen Erfolg

Das 10. Feldkirch Festival überraschte am Samstag zu seinem vorläufigen (oder endgültigen?) Ende mit einer ansehnlichen und durchaus respektablen Opernproduktion als österreichische Erstaufführung. Wie beim Festival selbst, geht es auch in diesem Werk um existenzielle Fragen: „Fröken Julie“ ist die Opernversion des packenden Schauspiels „Fräulein Julie“ von August Strindberg mit der Musik des Finnen Ilkka Kuusisto und in der Regie von Festival-Intendant Philippe Arlaud – ein packendes Psychodrama um eine nicht standesgemäße Liebesbeziehung, die in Hass umschlägt. Das Publikum im eher mäßig besetzten Montforthaus spendete demonstrativ Ovationen für alle Beteiligten.

Zum 100. Todestag von August Strindberg


„Fräulein Julie“ des schwedischen Dichters August Strindberg, dessen 100. Todestag sich heuer jährt, ist zweifellos einer der ganz großen Stoffe der Weltliteratur und erfuhr entsprechend zahlreiche Inszenierungen, Verfilmungen, Ballettversionen und Vertonungen. Die vorliegende Version schrieb der heute 79-jährige Ilkka Kuusisto, der sich seit den späten 1960er Jahren einen internationalen Ruf als Opern- und Vokalkomponist erarbeitet hat und lange Direktor der finnischen Nationaloper in Helsinki war, im Jahre 1994 nach einem Libretto in schwedischer Sprache. In dieser Version wurde es nun auch mit deutschen Untertiteln in Feldkirch aufgeführt.

Strindberg verfasste sein „naturalistisches Trauerspiel“ 1888 in einer überaus kreativen Phase, die zugleich von großen Problemen und extremen Spannungen gekennzeichnet war. Er fühlte sich mit seinem Schaffen vielfach unverstanden, entwickelte eine Art Hassliebe zu Frauen und unternahm auf weiten Reisen „Fluchtversuche“, wie er sie selbst nannte. Diese Erfahrungen in seiner Situation und sein Verhältnis zu Frauen verarbeitete Strindberg in einer Mischung aus Dichtung und Wahrheit in seinen Werken.

Der erotische Reiz des Verbotenen


„Fräulein Julie“ verheißt eine spannende Geschichte mit dem erotischem Reiz des Verbotenen samt gesellschaftlicher Auf- und Ausbrüche. Julie ist die Tochter eines Grafen. In der ausgelassenen Feierstimmung der schwedischen Mittsommernacht 1874 tanzt sie entgegen aller Standesregeln mit Jean, dem Diener ihres Vaters, der mit der Köchin Kristin so gut wie verlobt ist. Julie macht Jean Komplimente, beginnt ein machtorientiertes erotisches Spiel mit ihm, gegen das er sich zunächst vorsichtig wehrt. Julie will ihre gesellschaftliche Machtposition verlassen, sich aus der Enge befreien, die ihr Stand und Geschlecht auferlegen. Der gebildete, weitgereiste Diener Jean will seinerseits um jeden Preis Karriere machen und wittert zunehmend seine Chance.

Beide leben schließlich ihre sexuelle Lust aus – die bittere Ernüchterung folgt am nächsten Morgen. Ihre Liebe erscheint plötzlich als Balanceakt zwischen Siegeswillen und Selbstaufgabe, die Gefühle wechseln zwischen Zärtlichkeit und Verachtung. Es sind die alten Motive von Macht und Unterlegenheit, die letztlich zu einem erbitterten Kampf führen, aus dem es für Julie keinen Ausweg mehr gibt. Jean reicht ihr das Rasiermesser, sie begeht Selbstmord.

Kammerspiel mit vielen Dialogen und wenig Aktion


Dieses fein gezeichnete Psychogramm einer Beziehung, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, bietet der Regie ein weites Betätigungsfeld. Philippe Arlaud hat diesen Bereich, ebenso wie Bühne und Licht, auch bei seiner letzten Feldkircher Saison zur Chefsache erklärt. Seine (Dreh-)Bühne ist, den Gegebenheiten des von ihm wenig geschätzten Montforthauses entsprechend, einfach und praktikabel, Außen- und Innenräume werden durch Projektionen simuliert. Das Licht ist, wie immer bei Arlaud, von unglaublicher Stimmigkeit, und auch in der Regie zeigt er überlegene und intelligente Gestaltungkraft. In diesem Kammerspiel, in dem vieles über intensive Dialoge und weniges über Aktionen abläuft, versucht er die Spannung durch die Betonung des oft Unausgesprochenen zu halten, die Träume der Protagonisten deutlich zu machen: Julie will auf der sozialen Leiter nach unten, Jean  nach oben. Ein kleiner Durchhänger im 1. Akt ist dennoch nicht übersehbar, im 2. Akt aber verdichtet sich das Ganze gegen den Schluss zu Krimispannung.

Unfreiwillig komisch ist eine Situation, in der Jean und Julie während des angedeuteten Geschlechtsaktes von ihren Plänen sprechen, in die Schweiz zu fliehen und dort ein Hotel zu eröffnen. Julie hat ihre Tage, Jeans Hemd ist danach blutbefleckt. Ein zweites, entscheidendes Mal fließt Blut, als Jean den von Julie geliebten Kanarienvogel brutal abschlachtet, weil er dessen Käfig nicht mit auf die Reise nehmen will. Dies wird zum Auslöser des eigentlichen Konfliktes.

Die Musik ist auf raffinierte, routinierte Art modern


Die Musik, die Ilkka Kuusisto dazu eingefallen ist, hat nicht unbedingt großes Opernformat – das wäre für ein Kammerspiel auch nicht notwendig. Sie ist auf raffinierte, routinierte Art modern, in einem für das breite Publikum durchaus erträglichen Ausmaß, ohne groß anzuecken oder aufzuregen. Sie plätschert in erweiterter Tonalität oft nur gefällig dahin, bisweilen etwas plakativ mit Flötengezwitscher, wenn es um den Kanarienvogel geht, wird sinnlich in den Liebesszenen, schwingt sich in dramatischen Momenten oder im großen, getanzten Finale des 1. Aktes aber auch zu dramatischer Wucht und Größe auf. Und bietet den Protagonisten vor allem im Finale noch echte Melodien und dem Grafen-Personal für die Mittsommernacht auch Pseudo-Folkloristisches. Eine durchaus praktikable Musikkulisse also, die Stimmungsgehalte auf der Bühne ideal illustriert, aber insgesamt wenig Eigenleben entwickelt.

Die Besetzung der drei Partien krankt etwas an der Titelfigur. Maarit Aura bleibt als Julie schauspielerisch und stimmlich blass, lässt im Umgang mit Jean oft die erforderliche Koketterie vermissen und wird manchmal mit ihrem schönen, aber kleinen Mezzo vom Orchester zugedeckt. Marjukka Tepponen als Köchin Kristin besitzt all das, was man bei Julie vermisst: Resolutheit, Präsenz und einen strahlenden Sopran mit großen stimmlichen Aufschwüngen im Finale, wenn sie um ihre älteren Rechte kämpft. Und Diener Jean ist sogar ein Ereignis, eine pralle, spielfreudige Bühnenfigur zwischen Verschlagenheit und Geilheit, ausgestattet mit einem wunderbar tragenden, klar zeichnenden Bariton.

Die Frau im Frack stellt erneut ihren Mann


Arlaud war es wichtig, dass „dieses Frauenstück auch von einer Frau dirigiert wird“, und so findet man am Pult im Orchestergraben die körperlich zierliche, als Dirigentin im Frack aber enorm große blonde Anu Tali, die mit ihrem Nordic Symphony Orchestra schon zwei Tage zuvor mit einem Orchesterkonzert beim Feldkirch Festival begeistert hat. Die Musikerinnen und Musiker spielen hier in reduzierter Besetzung, aber nicht weniger elegant, einfühlsam und in größter klanglicher Schönheit. Einen kurzen, aber eindrucksvollen Auftritt absolviert der von Benjamin Lack einstudierte Feldkircher Kammerchor mit einer fröhlichen Mittsommernachts-Tanzeinlage in schwedischer Sprache (!) und in wunderbar stimmigen Kostümen (Andrea Uhmann). Julia Mach als elegante Tänzerin ist eine Art allegorische Figur zwischen den beiden Akten.

Insgesamt also eine durchaus ebenso sehens- wie hörenswerte Produktion beim Opern-Außenseiter Feldkirch Festival, die im direkten Vergleich die international beachtete Opern-Uraufführung der Bregenzer Festspiele vom Vorjahr mit „Achterbahn“ von Judith Weir um Längen schlägt.

 

Zweite und letzte Aufführung: 
Sonntag, 10. Juni, 19.30 Uhr, Feldkirch, Montforthaus