Das Wiener Burgtheater war mit Molières „Der Menschenfeind“ unter der Regie von Martin Kušej im Bregenzer Festspielhaus zu Gast ( Foto: Matthias Horn))
Fritz Jurmann · 08. Apr 2013 · Musik

Innsbruck macht „Die tote Stadt“ lebendig: Korngolds Oper zwischen Wahn und Wirklichkeit

Am Tiroler Landestheater Innsbruck wird derzeit erstmals in der Geschichte des Hauses die 1920 uraufgeführte Oper „Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold gegeben, in einer optisch dichten, atmosphärischen Umsetzung und ausgestattet mit teils überragenden musikalischen Leistungen. Inmitten einer musikalisch schwülstigen, in der Szene lasziv aufgeladenen Atmosphäre wird in bester Freudscher Manier das verstörende Psychogramm eines Einzelgängers gezeichnet, eines Zerrissenen, der in der Trauer um seine verstorbene Frau in einen emotionalen Strudel zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Traum und Transzendenz gerät und dabei die Vergangenheit nie ganz abstreifen kann. Das ergab vergangenen Samstag spannende knapp drei Stunden im voll besetzten Haus.

Das Werk eines 23-Jährigen


Allein die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes enthält viele Besonderheiten. Der Jude Korngold, 1897 in Brünn zur Welt gekommen, galt in Wien bald als Wunderkind. Er begann früh zu komponieren und schrieb im Alter von 23 Jahren seine Oper „Die tote Stadt“, die damals wie eine Bombe einschlug und Korngold neben Richard Strauss zum meistgespielten Opernkomponisten Österreichs und Deutschlands machte. Er bediente sich dabei der Romanvorlage „Das tote Brügge“ des belgischen Schriftstellers Georges Rodenbach, aufgrund derer sein Vater, der Musikkritiker Julius Korngold, das Libretto verfasste. Um von vornherein jeden Eindruck der Protektion seines Sohnes zu vermeiden, griff er zum Pseudonym „Paul Schott“, das erst viel später entschlüsselt wurde. „Paul“ ist der Name der Hauptfigur der Oper, „Schott“ der Name des Verlages.

Das Interesse für das neue Werk war so groß, dass die Uraufführung am 4. Dezember 1920 zeitgleich an zwei Opernhäusern stattfand, in Hamburg und Köln. Nachdem Korngold als Jude während der Naziherrschaft in die USA emigrieren musste und dort als „Hauskomponist“ der Warner Brothers 18 Filme vertonte, ebbte der Hype um ihn und seine Erfolgsoper in Europa zusehends ab. Auch nach Kriegsende sah sich Korngold in Europa zunehmender Nichtbeachtung ausgesetzt, erst eine Neuauflage seiner Werke in den USA ab 1972 bescherte seinem Opernhit eine bis heute anhaltende Renaissance.

Ein Wunschtraum wird zum Albtraum


Als „Kirche der Gewesenen“ bezeichnet Paul den Raum, der dem Andenken seiner geliebten verstorbenen Frau Marie geweiht ist, mit vielen Bildern und Gegenständen. Er lebt zusammen mit seiner Haushälterin völlig in der Vergangenheit, bis eine Tänzerin auftaucht, Marietta, die seiner verstorbenen Frau aufs Haar gleicht. Paul erliegt ihren Verführungskünsten und meint, eine Art wundersame Wiederauferstehung seiner toten Frau erleben zu dürfen. Der Wunschtraum endet jedoch im Albtraum, der den Hauptteil der Handlung einnimmt und an dessen Ende Paul die Tänzerin mit der Haarlocke seiner Frau erdrosselt.

Die Oper zeichnet das Sittenbild der zwanziger Jahre zwischen larmoyantem Selbstmitleid und zwanghafter Lebensfreude mit dem Tanz auf dem Vulkan und am Abgrund des erahnten bevorstehenden Zusammenbruchs. Die Protagonisten geraten hier in einen Strudel aus Morbidität, erotischer Verstrickung, Traum und Wirklichkeit, für die Regisseur Ernö Weil, des Öfteren in Innsbruck zugange, gemeinsam mit Ausstatterin Karin Fritz starke, raffinierte Bilder gefunden hat.

Bosch-Figuren als Symbole des Triebhaften


Besonders gelungen ist die Pierrot-Szene mit einer riesigen Uhr, den unglaublich fantasievollen Kostümen und prallen Kletterfiguren auf den sich ständig drehenden Bühnenelementen, die als Symbole des Triebhaften dem Stall des niederländischen Renaissance-Malers Hieronymus Bosch entsprungen sein könnten. Manchmal überzeichnen die beiden auch, vor allem dann, wenn es bei dieser Art des Totenkults auch um religiöse Aspekte geht. Die Prozession der trippelnden Klosterfrauen wird zur argen Parodie, die Anreicherung der Szene mit Symbolen wie auf den Tüllvorhang projizierten Monstranzen und Ministranten während eines angedeuteten Geschlechtsverkehrs auf der Bühne gerät hart an den Rand der Blasphemie.

Korngolds zwar effektvolle und erotisch aufgeladene Musik wirkt oft auch recht oberflächlich und rückwärts gewandt. Sie ist immerhin in Zeiten entstanden, da Strawinsky bereits seinen nach den SOV-Konzerten derzeit im Land viel diskutierten knalligen „Sacre du Printemps“ zur Aufführung gebracht hatte. Korngold nahm Anleihen nicht bei den Schlechtesten, nämlich bei Gustav Mahler und Richard Strauss als den unangefochtenen Größen jener Zeit, bei Giacomo Puccini, aber auch Ausflüge ins Operettenhafte eines Franz Lehár sind ihm nicht fremd, und die Leitmotiv-Technik entlieh er sich aus dem Schatzkästlein Richard Wagners. Dennoch ist diese Musik eines 23-Jährigen letztlich bereits von großer Eigenständigkeit und weist in ihrer emotionalen Wirksamkeit bereits voraus auf den späteren erfolgreichen Hollywood-Filmkomponisten.

Ein Teil des Orchesters wird ausgelagert


Bei der Besetzung des riesigen Orchesters griff Korngold ins Volle und verlangte so viele und auch so viel ausgefallene Instrumente, dass sie in kaum einem Orchestergraben dieser Welt unterzubringen sind, schon gar nicht im eher bescheidenen des Innsbrucker Opernhauses. Man behilft sich dort erfreulicherweise nicht einfach mit Weglassen, sondern mit der Verlagerung gewisser Instrumente wie Klavier, Celesta, Windmaschine oder Gong in einen Probenraum. Von dort werden sie in einer tontechnischen Übertragung nahtlos in den Orchesterklang integriert.

Respekt gebührt auch dem Dirigenten der Aufführung, Alexander Rumpf, der sein gut disponiertes Tiroler Symphonieorchester Innsbruck in glühenden Farben immer wieder intensiv zum Leuchten bringt, für erstaunliche Präzision im gewaltigen Kollektiv sorgt, in seiner Begeisterung aber in Sachen Lautstärke etwas zu viel des Guten tut und so die Sänger öfter stimmlich in Bedrängnis und an den Rand der Unverständlichkeit bzw. der Überforderung bringt.

Hauptpartien entsprechen Wagner-Format


Dabei sind für die beiden extremen Hauptpartien, die an Durchhaltevermögen, Höhe und Kraft etwa Wagners „Tristan und Isolde“ entsprechen dürften, zwei wirkliche Kaliber ihres Fachs aufgeboten. In der Partie des Paul trumpft der Tenor Wolfgang Schwaninger in einer großartigen Charakterstudie auf, ist völlig eins mit der Rolle und singt auch noch seinen finalen Opernhit „Glück, das mir verblieb“ ohne jede Ermüdungserscheinung. An seiner Seite als Marietta von schauspielerischer Präsenz, voll betörender Erotik und auch stimmlich der „Mörderpartie“ gewachsen Ensemblemitglied Susanna von der Burg, Sopran. Warum man sie freilich in ein Gewand gesteckt hat, das sie wie ein Knallbonbon aussehen lässt, bleibt unerfindlich. Daniel Raschinskys wunderbarem Bariton ist der zweite große Ohrwurm dieses Werkes zugedacht, die Arie „Mein Sehnen, mein Wähnen“. Er singt sie als Pierrot Fritz verkleidet auf einem schwingenden Pendel. Solide besetzt sind die Nebenrollen von Freund Frank (Joachim Seipp) und der Haushälterin Brigitta (Anna-Maria Dur), der Chor des Landestheaters und die Wiltener Sängerknaben geben ein kurzes, aber eindrucksvolles Gastspiel von der obersten Galerie aus.

Versuch eines Fazits, auch in pekuniärer Hinsicht: Der mit Produktionen vor Ort nicht gerade verwöhnte Ländle-Opernfreund sollte seinen Blick nicht nur ins zwar nähergelegene, aber extrem teuer gewordene Zürich richten, wo man für eine Karte der ersten Kategorie mittlerweile um die 250 Euro hinlegt. Um etwa ein Viertel dessen bekommt man in Innsbruck zwar keine Hochglanz-Produktionen mit internationalen Stars, aber doch stets absolut solide Qualität geboten: Um viel weniger Geld also gibt es kaum große Abstriche. Daran hat sich auch seit dem Wechsel in der Intendanz nichts geändert, wo Brigitte Fassbaender vergangenen Sommer nach 13 Jahren ihrem Landsmann Johannes Reitmeier Platz machte. Ein Vergleich lohnt sich also.

Vorläufig letzte Vorstellung „Die tote Stadt“ am Tiroler Landestheater Innsbruck:
19. April, 19.30 Uhr
www.landestheater.at