Das UNPOP-Ensemble zeigt derzeit das Stück "Fairycoin" im Theater Kosmos. (Foto: Caro Stark)
Fritz Jurmann · 19. Jul 2013 · Musik

Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ wird zur Opernentdeckung – Freundliche Aufnahme der Tchaikowsky-Uraufführung bei den Festspielen

Nach seiner spektakulären Deutung von Mozarts „Zauberflöte“ als Regisseur auf der Seebühne ist David Pountney auch als Intendant der Bregenzer Festspiele ein zweiter Coup gelungen. Die in den Siebzigern nach Shakespeares Komödie entstandene Oper „Der Kaufmann von Venedig“ des polnisch-britischen Komponisten André Tchaikowsky erwies sich am Donnerstag bei ihrer viel beachteten Uraufführung im Festspielhaus als starkes Stück mit einer sehr einprägsamen Musik. Eine glänzend umgesetzte und besetzte Entdeckung, die vom Premierenpublikum allerdings nur mit freundlichem Beifall für Protagonisten und Leading Team quittiert wurde.

Ein Pfund Fleisch als Pfand


Ein Pfund Fleisch, Menschenfleisch, einem Schuldner als Pfand vom Geldverleiher aus dem lebendigen Leib geschnitten, wenn er sein Geld nicht zurückzahlen kann: Um dieses unglaubliche Ansinnen dreht sich der Plot, den der britische Dramatiker William Shakespeare um 1600, also vor gut 400 Jahren, für seinen „Kaufmann von Venedig“ ersonnen hat. Der Arme ist der Kaufmann Antonio, der sich vom Juden Shylock Geld leiht, damit sein Freund Bassanio die reiche Portia ehelichen kann. Antonio wähnt seine Schiffe auf sicherer Fahrt und geht deshalb bedenkenlos das Risiko ein, das für ihn zur tödlichen Bedrohung wird, als er plötzlich mittellos dasteht und Shylock auch um alles Geld der Welt nicht vom Vertrag abrückt.

Man hat in diesem Zusammenhang immer wieder den Antisemitismus dieses Stückes diskutiert, und tatsächlich wurde es in der NS-Zeit als Verkörperung der nationalsozialistischen Rassenideologie mit den äußerlichen und charakterlichen Merkmalen des Judenbildes häufiger aufgeführt. Angesichts des Holocausts hat sich nach dem Krieg, auch in Film- und TV-Fassungen, die mitfühlende Darstellung des Shylock durchgesetzt, dem bei Shakespeare das widerfährt, was er selber zuvor seinem Schuldner verweigert hat: „Gnade vor Recht“.

In kluger Regie gedeutet


Dies ist auch in der klar durchgestylten und überschaubaren Operninszenierung durch Keith Warner nachvollziehbar, dem man den großartigen „André Chénier“ am See von den Vorjahren verdankt. Er siedelt das Stück zu Beginn des 20. Jahrhunderts an und findet dazu packende Bilder und stringente Abläufe. So wie bei Shakespeare ist auch bei ihm Antonio die Hauptfigur, nicht Shylock, dem seit Fritz Kortners Filmdarstellung von 1969 das Prädikat der „wichtigsten Nebenrolle der Welt“ anhaftet. Als Shylock am Ende durch ein listiges Ränkespiel Portias selber als Verlierer und erbärmliche Figur dasteht, dürfte ihm wohl manches Verständnis, sogar Mitleid des Zuschauers sicher sein. Auch deshalb, weil er nicht aus der den Juden gerne nachgesagten Habgier, sondern aus Rache handelte, da Antonio ihn seiner Religion wegen verspottet hatte.

Es dürfte vielleicht so etwas wie ein Akt persönlicher Vergangenheitsbewältigung gewesen sein, der den 1935 als Robert Andrzej  Krauthammer geborenen polnischen Juden André Tchaikowsky veranlasste, genau dieses Stück um das Zusammentreffen von Christen und Juden, um Gnade, Moral und Doppelmoral, um Vorurteile und Ausgrenzung als Vorlage seiner ersten und einzigen Oper zu nehmen. Als Kind war er selber knapp dem Warschauer Ghetto entronnen und später nach England ausgewandert, wo er in die kulturelle Tradition des Landes mit seiner  Shakespeare-Vergangenheit und dem allgegenwärtigen, 1976 verstorbenen britischen Komponisten Benjamin Britten eintauchte.

Von Benjamin Britten inspiriert


Dieser dürfte auch zumindest indirekt sein Lehrmeister gewesen sein, von ihm, vielleicht auch von Ravel, Prokofieff oder Korngold lässt sich manches in Tchaikowskys detaillierter Motivbehandlung, Farbgebung und vor allem in seiner großartigen Orchestrierungskunst wiederfinden. Freilich ist dies alles mit einer Großportion an Talent und Können zu einem sehr individuellen Personalstil verfeinert, in einer auf vorwiegend tonaler Basis erweiterten Tonsprache. Tchaikowsky schreibt verstehbare neue Musik. Imponierend, wie er im Libretto seines Freundes John O’Brien, der hoch betagt der Premiere beiwohnte, fast in einer Art Leitmotivik jede Handlung, jede Person illustrierend charakterisiert, an den entsprechenden Stellen auch Elemente aus dem Jiddischen einfließen lässt oder die Liebe zwischen den beiden Freunden durch die Solovioline kommentieren lässt.

Imponierend, wie er den Sängern melodiöse Arien und Duette von herber Süße in die Kehle schreibt und kompakte Ensembles arrangiert. Vor allem aber, wie er die beiden Schauplätze der Handlung in praller Gegensätzlichkeit zeichnet: das kapitalistische Venedig mit seiner Macht des Geldes geschäftig in kantigem Blech, Pauken, aufgerauten Akkordballungen und aufgeregten Streicherfiguren, die Welt Portias im dekadenten Belmont in pastoralem Holz, Celesta und Harfe, mit geschickten Anklänge an die Renaissance als Entstehungszeit der Vorlage.

Ensemble des Konse bringt Farbtupfer


Dafür hat man in dieser Aufführung in Kooperation mit dem Landeskonservatorium Feldkirch eigens ein kleines Ensemble für Alte Musik aufgeboten, das einen reizvollen Farbtupfer ins Geschehen bringt. Im Übrigen ist diese blutvolle Musik aber natürlich bei den Wiener Symphonikern in besten Händen, die von Tchaikowsky im Schwierigkeitsgrad ordentlich gefordert werden, sich aber als eigentliches Konzertorchester höchst motiviert und spielfreudig auch immer wieder im Opernbereich profilieren und damit auch diesmal entscheidend zum Erfolg dieser Uraufführung beitragen.

Ein wesentliches Verdienst kommt dabei auch dem amerikanischen Dirigenten Erik Nielsen zu, der sich als penibler Kenner des Werkes erweist und die Aufführung auf hohem Niveau, mit unglaublicher Präzision und idealer Balance zur Bühne über die Runden bringt. Es kommt selten vor, dass die abgebrühten Symphoniker einem Dirigenten so wie diesmal bereits am Ende der Generalprobe Applaus spenden.

Als Opernkomponist ein Wunder


Dass der zu seiner Zeit vor allem als Pianist bekannte Tchaikowsky, der als Komponist weniger Werke kaum einschlägige Erfahrung hatte, ein so gewichtiges  musikdramatisches Werk zu schreiben vermochte, bezeichnete Pountney beim Pressetag als kleines Wunder. Dieser Umstand erklärt freilich auch, dass der Komponist bei seiner ersten Oper offenbar noch nicht ganz das rechte Maß für  dramaturgische Gewichtungen besaß.

So griff er ins Volle, ließ seine Melodien aus einem schier unerschöpflichen Füllhorn von Einfällen ungehindert sprudeln, und es hätte bei der Uraufführung des gut  dreistündigen Werkes (inklusive Pause) doch einiger Striche bedurft, um Längen zu vermeiden und Handlung und Musik konzentrierter vorwärts zu treiben. Nach Ende des spannenden dritten Aktes etwa ist bereits alles zu dieser Geschichte gesagt, die halbstündige Episode mit den Ringen in einem angefügten Epilog mit riesigem Vollmond ist zwar wie eine japanische Liebesnacht fast kitschig lyrisch aufbereitet, zieht sich aber, weil die Spannung bereits aus dem Stück draußen ist.

Dennoch bleibt ein insgesamt überwiegend positiver und intensiver Eindruck dessen, was sich da in der praktikablen Ausstattung von Ashely Martin-Davis samt liebvoll detailreicher Kostüme abspielt. Er kommt großteils mit zwei variablen Mauerteilen aus, die blitzschnelle Verwandlungen ermöglichen, bringt aber im zweiten Akt auch den launigen Einfall ins Spiel, das Geschehen auf der Bühne von einer im Schnürboden befestigten Kamera mit einer Art Landkarten-Effekt auf die Rückwand zu projizieren. Das passt auch ideal zu diesem Teil des Stückes, der angesichts des Bangens um Leib und Leben allein auch die von Shakespeare gewählte Bezeichnung „Komödie“ rechtfertigt. Was sich da mit den beiden Freiern abspielt (herrlich gestelzt Juliusz Kubiak als Prinz von Aragon und der sprungstarke Elliot Lebogang Mahlamme als Prinz von Marokko), die mit der Wahl aus drei Kästchen um Portias Hand anhalten, ist ein komödiantisches  Gustostückchen erster Güte.

Hervorragendes Casting


Beim Casting wurde offenbar hervorragend gearbeitet, die Besetzung ist wie maßgeschneidert für dieses Stück, das von den Protagonisten schon in der Einstudierung der umfangreichen und schwierigen Partien in englischer Sprache enorme Einsatzbereitschaft voraussetzte. Vor allem die vier Hauptakteure leisten gesanglich und darstellerisch fast Übermenschliches. Antonio ist in seiner depressiven Zerbrechlichkeit bewusst mit einem Countertenor besetzt, der dünnsten männlichen Stimme – Christopher Ainslie spielt und singt das sehr glaubhaft, inklusive homoerotischer Anwandlungen.

Sein Freund Bassiano ist der Stabilisator in dieser Männerfreundschaft, die bis zum Letzten auf die Probe gestellt wird – der unglaublich höhensichere Tenor Charles Workman liebt und leidet mit. Der prominente Wiener Bariton Adrian Eröd verkörpert den Juden Shylock nicht bloß, vor allem in der Gerichtsszene ist er Shylock, in Gestik, Mimik, stimmlich bis zum bitteren, beklemmend dargestellten Ende. Portia schließlich, als reiche Erbin die weibliche Hauptrolle, findet in der Sopranistin Magdalena Anna Hofmann ihre Entsprechung, warm strahlend in Erscheinung und Stimme und als verkleideter Rechtsgelehrter über sich hinauswachsend.

Neben dem Hauptpaar Portia und Bassiano stehen nach etlichem Liebesgeplänkel am Ende zwei weitere Liebespaare auf der Bühne: die Linzer Sopranistin Verena Gunz als Portias Begleiterin Nerissa und der Bass-Bariton David Stout als Gratiano in Bassanios Gefolge, sowie die Sopranistin Kathryn Lewek als Shylocks Tochter Jessica und Jason Bridges als ihr Liebhaber Lorenzo. Richard Angas beeindruckt mit seinem Charakterbass als Doge von Venedig, Hanna Herfurtner als liebreizender  Knabe, der von Lukás Vasilek geleitete Prager Philharmonische Chor ist in den  Volksszenen großen Einsatz.

Tchaikowsky und Weinberg


Natürlich hat man bei dieser außergewöhnlichen Stückwahl der Festspiele die Hoffnung gehegt, dass die Oper „Der Kaufmann von Venedig“ des 1982 verstorbenen Tchaikowsky denselben Raketenstart hinlegen würde wie vor drei Jahren „Die Passagierin“ seines polnischen Kollegen Mieczyslaw Weinberg, der inzwischen eine europäische Größe in der Opernszene darstellt. Man würde es sich natürlich wünschen, doch scheint dies eher unwahrscheinlich, auch wenn Pountney beim anschließenden Premierenempfang von einem „Stück Musikgeschichte“ sprach, das die Festspiele mit dieser neuerlichen Uraufführung von extremer Qualität geschrieben hätten. Sujets und Berührungspotenzial der beiden Werke sind letztlich nicht vergleichbar, und auch wenn hier mit Tchaikowsky wieder zumindest indirekt das Schicksal eines Verfolgten der NS-Zeit im Spiel ist – eine solche Unmittelbarkeit selbsterlebter Bedrohung wie bei der Weinberg-Autorin Zofia Posmysz stellt sich heute beim Publikum schon deswegen nicht ein, weil der Komponist bereits vor über 30 Jahren verstorben ist.

Ein Letztes: Bregenz hat bei diesem Projekt die wohl einmalige Chance versäumt, parallel zu dieser Oper auch Shakespeares Schauspiel „Der Kaufmann von Venedig“ im Original zu zeigen. Infolge der durch den schwachen Besuch von „André Chénier“ verursachten Finanzmisere ist gerade heuer erstmals der Schauspielbereich dem Rotstift zum Opfer gefallen. Eine solche direkte Gegenüberstellung hätte das neue Werk wohl noch deutlicher in den Fokus der internationalen Fachpresse gerückt.

 

Weitere Aufführungen: Sonntag, 21. Juli, und Sonntag, 28. Juli, jeweils 11.00 Uhr, Festspielhaus Bregenz