Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Peter Füssl · 14. Jun 2014 · Tanz

Im Anfang war das Gemüse, und das Gemüse ist Tanz geworden – Chris Haring/Liquid Loft sorgen mit „Deep Dish“ für einen fulminanten Ausklang des tanz ist Festivals am Spielboden

„Deep Dish“ ist der Abschluss der aufsehenerregenden vierteiligen „Perfect Garden“-Serie, die Österreichs international renommierter und vielfach ausgezeichneter Top-Choreograph Chris Haring mit seiner Compagnie Liquid Loft in den letzten Jahren erarbeitet hat. 2012 verwandelte er nach Plänen des französischen Künstlers Michel Blazy weite Teile des Spielbodens in einen gleichermaßen faszinierenden wie verstörenden Zaubergarten, der nun in der neuesten Produktion, auf einen etwa zwei mal zwei Meter messenden Tisch komprimiert, nicht weniger verblüffende Ergebnisse liefert.

Im Anfang war das Gemüse ...


Wie nebenbei tragen Stephanie Cumming, Katharina Meves, Anna Maria Nowak und Luke Baio üppiges Gemüse, Obst, Pilze, allerlei Grünzeug und Getränke herein und drapieren damit den großen Tisch in der Mitte des Saales. Im Publikum wird noch geredet, weil man nicht weiß, ob das Stück schon begonnen hat oder ob noch aufgebaut wird – Kenner aber wissen, dass einer wie Chris Haring nichts dem Zufall überlässt. Behutsam schleust er so „Deep Dish“ in die Aufmerksamkeit der Zuschauer hinein, um sie dann eine Stunde lang gnadenlos im Bann zu halten. Das ständige Switchen zwischen Mikro- und Makrokosmos zieht einen wie im Sog in diese magischen Welten hinein. Mithilfe der hauptsächlich von Luke Baio geschickt geführten Handkamera kann man sich live auf die seltsamsten Expeditionen begeben, sich in Broccoli-Wäldern verlieren, auf Ananas-Klippen klettern, in rote Tomatenpampe eintauchen, monströse Wasserflöhe beobachten oder in furchtbar trübe Gewässer eintauchen. Das allein würde schon einen bezaubernden Filmabend ergeben, aber – aufgewacht! – wir befinden uns in einer Tanzperformance. Und in was für einer!

... und das Gemüse ist Tanz geworden


Erst einmal spielen die Protagonisten feine Gesellschaft. Klischeehafte Mimik und Gestik und die typischen Handlungen bei Tisch verselbständigen sich immer mehr zu verdichteten Bewegungsabläufen. Absurde Monologe verstören und erheitern. Beschränkt man sich vorderhand einmal auf das, was man bei Tisch so tut, so entwickelt sich das Geschehen immer mehr in Richtung jener Dinge, die man bei, vor allem aber auf und unter dem Tisch absolut nicht tun sollte. In einem unglaublichen Bilder- und Farbenrausch, vollgestopft mit überraschenden Ein- und Ausblicken, werden die vier Protagonisten nahtlos in den überdimensional an die Leinwand projizierten Obst/Gemüse/Wasserglas-Dschungel integriert. Die ohnehin schon eigentümliche Welt wird durch überdimensionale Münder, Augen und Körperteile zusätzlich verfremdet. Manchmal glaubt man, vor dem Dilemma zu stehen, wie man sich gleichzeitig auf die tatsächliche Performance und auf ihre filmische Auflösung konzentrieren soll, ehe man im Strudel einfach mitgerissen wird und sich solche Fragen ganz von selber lösen. Schönheit und Dekadenz, Sinneslust und Vergänglichkeit vermählen sich in diesem barocken Spektakel, das immer bizarrere Ausmaße und rauschhafte Züge annimmt. Die üblichen Vorstellungen von Raum und Zeit spielen in diesem Überangebot an möglichen Wirklichkeiten keine Rolle mehr. Chris Haring nennt als Inspirationsquellen für seine künstlichen Paradies/Höllen-Szenarien wohl nicht ganz zufällig unter anderem auch Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“.

Perfektes Zusammenspiel auf allen Ebenen


Die live geführte Handkamera wird zur Lupe und zur Sonde und liefert grandiose Bilder, die nur selten – etwa in einer gespenstisch grünen Nachteinstellung oder durch geschickte Spiegelungstechniken – in stärkerem Maß manipuliert werden. Der phantastische Mikrokosmos, der die Akteure schließlich fast völlig absorbiert, bietet dem Auge genug an höchst erwünschten Irritationen. Witz und Tiefgründigkeit, bildhaft genial aufbereitet, verbinden sich auch in „Deep Dish“ wieder zu jenem unschlagbaren Gespann, das die Qualität von Chris Haring/Liquid Loft ausmacht. Wesentlichen Anteil an dieser außergewöhnlichen Produktion haben aber auch der Dramaturg und Lightdesigner Thomas Jelinek und der für kongeniale Soundscapes zur überbordenden Bilderflut sorgende Komponist und Sounddesigner Andreas Berger.

Dass die Kompagnie diesen Abend zum Schluss mittels in die Kamera gehaltener handgeschriebener Bildtafel dem 20-Jahre jubilierenden Festival und dessen Gründer und Macher Günter Marinelli widmete, war eine ausgesprochen nette Geste und wohl auch ein Dankeschön. Denn die genialen Künstler und das kleine aber feine Festival leben fast schon seit Anbeginn in einer wunderbaren Symbiose, von der vor allem auch die wachsende Zahl der Tanz- und Performance-Interessierten in diesem Land profitiert.

Heute besteht ab 20.30 Uhr letztmalig die Gelegenheit, "Deep Dish" live am Spielboden Dornbirn zu erleben. www.spielboden.at, www.tanzist.at