Neu in den Kinos: „Ich Capitano“ (Foto: X-Verleih)
Thorsten Bayer · 24. Jun 2013 · Theater

Eine „Faust“-Szene in zehn Variationen: Das Theater Gemischtwarenladen bot im Zeughaus Lindau sehr gute Unterhaltung

Lutz Hübners Stück „Gretchen S. 89ff.“ ermöglicht anhand einer Szene aus Goethes Faust (Der Tragödie erster Teil) abwechslungsreiche und stets amüsante Einblicke in die Theaterwelt. Geprobt wird immer dieselbe Szene; nämlich jene, die im Reclam-Heftchen auf den Seiten 89 folgende steht und in der Gretchen das Schmuckkästchen ihres Liebhabers findet. Zehn Variationen mit immer anderen Gretchen und Regisseuren führen dem Publikum auf pointierte Weise vor, wie es hinter den Kulissen zugehen kann. Das Theater Gemischtwarenladen, eine junge Gruppe aus dem Raum Friedrichshafen, sorgte mit seiner gelungenen Vorstellung für zahlreiche Lacher.

„Hoffentlich spielen sie es so, wie es ist“ – dieser hoffnungsvolle Ausspruch einer Theaterbesucherin vor Beginn einer Aufführung ist Jutta Dickmanns, der Moderatorin des Abends, im Ohr geblieben. Aber gibt es denn überhaupt die eine Version eines Stückes, zumal eines Klassikers wie „Faust“? Natürlich nicht, diesen Beweis tritt das zehnköpfige Ensemble unter der Leitung von Regisseurin Dagmar Mader eindrucksvoll an. Deutlich mehr als um Fragen der Theatertheorie geht es jedoch in diesem Stück um eine kurzweilige Typologie der verschiedenen Charaktere im Theater.

„Fleischlich denken“ im Dienste der Wahrheit


Da ist beispielsweise das sogenannte Tourneepferd (überzeugend: Walter Schmid) – ein Regisseur, der mit Wiener Akzent, starkem Hang zum Grappa und der Optik eines kolumbianischen Drogenbarons auftritt. Die eigentliche Probenarbeit interessiert ihn herzlich wenig. Vorrangiger ist für ihn, die jungen Hascherl in der Kantine abzufüllen. Namen sind ihm einerlei, da wird aus Gretchen gerne Käthe oder Kati – das aber immerhin konsequent. Christiane Möller, das nächste Gretchen, hat es in der nächsten Szene mit einem ganz anderen Typen zu tun. Roger Crummenerl gibt den ausgemergelten „Schmerzensmann“, der seinen Selbsthass auf seine Schauspieler überträgt. Von ihm kommen Anweisungen wie „Verschon mich mit der ganzen Theoriescheiße, der Rezipient muss das nachher auch ganz unmittelbar aufnehmen. Wichtig ist: Du musst das fleischlich denken." Das schöne Theater ist ihm egal, ihm geht es um Wahrheit.

In der Kürze...


Es folgen unter anderem Auftritte einer Diva (Susi Primuth), die sich mit nichts zufrieden gibt, einer Putzfrau (Christiane Möller), die ihre große Chance wittert sowie eines Freudianers am Regiepult (Walter Schmid), dem der Originaltext weniger bedeutet als das „Gefühl für die Szene“. Besonderen Eindruck hinterlässt die Szene mit der Dörte Hennings als Dramaturgin, die die klassische Rolle des Gretchens ordentlich gegen den Strich bürstet und sie mit einem Mann (Andreas Hocke) besetzt.

Eine der originellsten Figuren des Abends ist die „Streicherin“, die Ruth Weidmann treffsicher verkörpert. Ohne Rücksicht auf Verluste und Sinnzusammenhänge kürzt sie rigoros. Ihrem Rotstift fällt schließlich sogar das Schmuckkästchen zum Opfer. So lautet ein Original-Abschnitt: „Es ist so schwül, so dumpfig hie / Und ist doch eben so warm nicht drauß. / Es wird mir so, ich weiß nicht wie – / Ich wollt, die Mutter käm nach Haus. / Mir läuft ein Schauer übern ganzem Leib – / Bin doch ein töricht furchtsam Weib.“ Viel zu lang für die „Streicherin“, bei der es dann heißt: „Schwül ist es irgendwie (Pause) / Und Mutter ist nicht da.“

Zurück am Bodensee


Lutz Hübner arbeitet in diesem Stück mit viel Ironie und Überzeichnung. Das wird beispielsweise in der Szene deutlich, als die „Schauspielerin an sich“ (Siggi Crummenerl) für ihre Berufskolleginnen nichts als Neid übrig hat und gierig das Branchenmagazin „Theater heute“ nach Hinweisen auf die eigenen Engagements durchsucht. Künstlerische Zusammenarbeit auf die (kabarettistische) Spitze getrieben. Mit „Das Herz eines Boxers" war übrigens eine andere Produktion aus der Feder von Lutz Hübner vor kurzem in Bregenz und – als Gastspiel des Vorarlberger Landestheaters – im Zeughaus Lindau zu sehen. „Gretchen S. 89ff.“ entstand ein Jahr später, nämlich 1997.

 

Das Zeughaus-Programm der nächsten Monate ist durchaus bemerkens- und sehenswert. Exemplarisch sei auf drei Höhepunkte hingewiesen:

Kabarettist Max Uthoff kommt am Donnerstag, 11. Juli.
Soneros de verdad
aus Kuba, die selbsternannte nächste Generation des Buena Vista Social Club, spielen am Freitag, 16. August – wenn es das Wetter zulässt – ein Open-Air-Konzert vor dem Zeughaus, ansonsten im Gebäude.
Altmeister Werner Schneyder ist zu Gast im Lindauer Stadttheater (11. Oktober).

www.zeughaus-lindau.de