Die Theatergruppe "dieheroldfliri.at" zeigt derzeit ihr neues Stück "Das Rote vom Ei" (Foto: Mark Mosman)
Peter Füssl · 05. Apr 2014 · Theater

Einfühlsamer Umgang mit einem schwierigen Thema – „Der Junge im Baum“ von Annette Raschner wurde am Dornbirner Spielboden uraufgeführt

Soll ich mir nach zehn Stunden Maloche an Telefon und Computer tatsächlich noch ein Theaterstück zum Thema Kindesmissbrauch geben? Gewiss, ein wichtiges Thema, aber verlockende Aussichten auf einen entspannenden Abend sehen doch ein bisschen anders aus. Hätte ich meinem inneren Schweinehund nachgegeben, wäre mir eine durch und durch bemerkenswerte Uraufführung und ein auf Intellekt und Seele gleichermaßen höchst anregend wirkender Zugang zu einem der ganz großen Tabus unserer und vermutlich aller Gesellschaften entgangen. „Der Junge im Baum“ von Annette Raschner in der Inszenierung von Dagmar Ullmann-Bautz ist ein Stück, dem man aus vielerlei Gründen lauter ausverkaufte Abende wünscht.

Sprachliche Raffinesse als perfekter Zugang zur Thematik


Bei einem Stück zum Thema Kindesmissbrauch könnte man einiges falsch machen. Man könnte versuchen, die ZuschauerInnen mit erhobenem Zeigefinger auf den selbst als einzig richtig empfundenen Zugang zu einer häufig verdrängten Problematik zu stoßen. Oder man könnte die moralische Keule schwingen, ordentlich auf die Tränendrüse drücken und das Publikum mit dem Gefühl entlassen, es reiche schon, sich mit Ekel abzuwenden im beruhigenden Bewusstsein, selber moralisch ohnehin weit über all diesen ungustiösen Dingen zu stehen.
Annette Raschner hat einen ganz anderen Weg gewählt. In faszinierender Feinstarbeit zeigt sie, wie Sprache gleichzeitig vernebeln und entblößen kann, wie man Sprache als Vehikel zur Flucht verwenden, und wie sie einen gnadenlos abstürzen lassen kann. Buchstäbliche Sprachlosigkeit lässt ebenso tief in die Seele blicken wie hilflose Geschwätzigkeit, die Kommunikationsprobleme verschleiern soll. Selbst mit der schönsten Poesie lassen sich Verdrängungsmechanismen nur beschränkt in Gang halten. Dieser subtile Umgang mit der Sprache ermöglicht es, dass über weite Strecken ein Gefühl der Beklemmung, des Verschleierns von etwas Unaussprechlichem evoziert wird, dass das Thema Missbrauch permanent unterschwellig mitschwingt, ohne es auch nur einmal direkt anzusprechen.

Multifunktionaler Spielbodenchor


Ein Dauerbombardement mit betroffen machenden Szenen würde vermutlich bei vielen ZuschauerInnen zum frühzeitigen gedanklichen Ausstieg aus der Thematik führen – man würde sich sicherheitshalber wohl ein bisschen abschotten. Da kommt der von Bettina Rein geleitete Spielbodenchor mit seinen mitunter ausgesprochen schrägen, manchmal sogar klamaukhaften Auftritten durchaus gelegen, denn die ermöglichen es, dass man selbst angesichts der ernsthaften Thematik auch manchmal ein bisschen lachen darf. „Beim Lachen öffnet sich nicht nur der Mund, sondern auch das Gehirn und vielleicht können Nägel der Vernunft eindringen,“ meinte dereinst Altmeister Dario Fo, einer der es wissen muss. Der Spielbodenchor übernimmt aber auch die Rolle der Gesellschaft, gibt sich zuweilen bieder voyeuristisch, schafft vor allem aber eine Atmosphäre der Bedrohung, der Düsternis, der offenen und, fast noch mehr an die Nieren gehend, der unterschwelligen Aggression. Er spielt also eine durchaus wichtige Rolle, fast schon im Sinne antiker Theaterchöre, und dient nicht nur der musikalischen Behübschung oder Zerstreuung. Nicht nachvollziehbar ist einzig, weshalb die Kostümierung schätzungsweise auf ein Dorfleben etwa in den 1930er Jahre verweist, wo doch Missbrauch ein Thema des Hier und Jetzt und Überall ist. Da wären die Alltagskleider der Chormitglieder möglicherweise passender gewesen. Wesentlich zu dieser Atmosphäre der Bedrohlichkeit und Zerrissenheit trägt auch die von Rolf Aberer komponierte und von Herlinde Devich eingespielte Klaviermusik bei.

Überzeugende Schauspieler


Das aus Schauspielprofis und -amateuren bestehende Ensemble wirkt durchwegs überzeugend. Alexander Julian Meile brilliert in der Rolle des sprachlos Verzweifelten, innerlich Zerrissenen und permanent in seiner seelischen Existenz Bedrohten gerade durch seine zurückhaltende Unaufdringlichkeit. Mit derselben unter die Haut gehenden Intensität demonstriert er auch, wie kurz der Weg vom Opfer zum Täter sein kann, wenn die Seele von Selbstzweifeln zernagt und das Selbstbewusstsein am Boden ist. Dass er ausgerechnet Felix – also der Glückliche oder der vom Glück Begünstigte – heißt, muss wie ein Hohn wirken, wenn er mit seiner inneren Zerrissenheit und seinen unberechenbaren Gefühlsaufwallungen auch noch jene Frau, die er liebt, verstört und vertreibt. Julia Sewing bringt Felix’ Geliebte Elik mit einer bezaubernden Natürlichkeit auf die Bühne. Man leidet mit ihr mit und hat Angst um sie, wenn sie zum Opfer eines Opfers wird, ohne auch nur ansatzweise realisieren zu können, worum es überhaupt geht.
Auch Andrea Pörtsch und Robert Kahr als in einem wirren Gestrüpp aus Wegsehen, Verdrängen und Sich-selbst-Belügen hilflos verhedderte Eltern lassen keine simple Schwarz-Weiß-Malerei zu. Wenn sie die Lebenslüge bis zum bitteren Ende im Altersheim aufrecht erhalten und ihrem Sohn die ihm zustehende Wahrheit und Gewissheit verweigern, tun sie das wohl eher aus Hilflosigkeit denn aus Bösartigkeit – der Endeffekt bleibt freilich derselbe.
Eine interessante Rolle spielt Hanno Dreher als Verkörperung der inneren Stimme, als aus Unterbewusstem, Verdrängtem und aus Ängsten zusammengesetztes fiktives alter ego von Felix. Seine anfangs etwas gespensterhaft wirkenden, später aber durchaus nachvollziehbaren Auftritte bringen zusätzliche Spannung ins Geschehen.

Umsichtige Regie


All diese unterschiedlichen Ingredienzien stimmig miteinander zu verbinden, und zwar so, dass sie sich in ihrer Wirkung wechselseitig potenzieren, ist kein leichtes Unterfangen. Dass dies eindrucksvoll gelingt, ist der umsichtigen Regie von Dagmar Ullmann-Bautz zu verdanken. Sie findet stets die richtige Dosierung für Tragik und Komik, für Poesie und Dramatik, und sie versteht es, die Vorzüge der Profis und der Amateure gleichermaßen zur Wirkung zu bringen. Fazit: ein kurzweiliger Theaterabend zu einem brennenden Thema, wobei Raschner/Bautz dem Publikum selbstverständlich nicht den Gefallen tun, es mit vorgefertigten Lösungsvorschlägen versorgt nach Hause zu schicken – denn bestenfalls sollte die eigentliche Kopfarbeit für die ZuschauerInnen nach dem Schlussapplaus erst so richtig losgehen.

Weitere Aufführungstermine:
5., 6. und 8. April, 20.30 Uhr
Spielboden Dornbirn
www.spielboden.at
karten@spielboden.at
Tel. 05572 21933