Alles außer gewöhnlich
Die Zeiten sind vorbei, als man für die Rolle des Autisten in „Rain Man“ noch Stars wie Dustin Hoffman engagierte. Zumindest in „Alles außer gewöhnlich“, einer eher um Authentizität bemühten filmischen Unternehmung. Darin leiten zwei höchst engagierte Sozialarbeiter – Bruno (Vincent Cassel) und Malik (Reda Kateb) – einen Verein namens „Stimme der Gerechten“, dem freilich die behördliche Genehmigung fehlt. Ihr Klientel sind Menschen mit autistischer Diagnose, zudem nehmen Bruno und Malik sich Jugendlicher aus den Banlieues an, um diese als künftige Sozialarbeiter für den Verein auszubilden. Für den Film (Originaltitel: „Hors normes“) wurden zum Teil tatsächlich Autisten engagiert, mit denen sich das Regie-Duo Éric Toledano und Olivier Nakache über ein Jahr lang in Workshops traf. Nach ihren eigenen Worten ging es darum, eine vertrauensvolle Basis für den Dreh zu schaffen. Von der Struktur her unterscheidet sich „Alles außer gewöhnlich“ von anderen Sozialdramen. Der Blick in die tägliche Sozialarbeit gleicht einem mäandernden Strom, in dem Stromschnellen und Inseln, Untiefen und prekäre Uferbereiche wahrzunehmen sind. Zwar gibt es kleine Erfolge, aber im Grund ist der Film wie ein zufälliger Ausschnitt aus der Alltagsarbeit angelegt, der keine großen Höhen und Tiefen kennt. Bruno bearbeitet den Chef einer kleinen Firma, die Waschmaschinen repariert, doch einen ihrer Klienten, den Autisten Joseph, bei sich aufzunehmen. Malik hat es mit einem Haufen Jugendlicher zu tun, denen irgendwie die Disziplin fehlt, sich vom Schlendrian zu befreien und Verantwortung im Verein zu übernehmen. Ein andermal sind die Behörden zu Besuch, die unbeeindruckt von allen Leistungen monieren, dass bei allem Engagement dennoch die Genehmigung fehlt. Mittendrin wuseln unermüdlich Bruno und Malik herum, die Kamera kommt 120 Minuten eigentlich nie zur Ruhe.
Stärker an einen Realismus angedockt
So wirkt der heurige Abschlussfilm der Filmfestspiele von Cannes auch ein wenig vollgepackt. Neben den Fährnissen im Dienst für die psychische Gesundheit möchten Toledano und Nakache auch weitere gesellschaftliche Verwerfungen thematisieren. Vincent Cassel trägt Kippa, Reda Kateb ist ein praktizierender Muslim. Die beiden verstehen sich blind, das ist gewissermaßen ein unausgesprochener Kommentar zu den zeitweise angespannten Verhältnissen in Frankreich. Und auch die Vororte der Großstädte mit ihren migrantischen Milieus mit Jugendlichen, die sich in diesem Staat ausgeschlossen fühlen, finden in „Alles außer gewöhnlich“ eine Andockstation. Die Grenzen, wovon hier erzählt werden soll und was sich sonst noch an Gesellschaftspolitik in die Handlung gemischt hat, sind dabei fließend. Nicht immer bewahrt man den Überblick. Mit Cassel, Kateb und dem Rest der Crew findet sich ein hervorragender Cast. Man merkt, wie souverän sie sich in den oft komplex aufgebauten Szenen, die verschiedene Bedeutungs- und Wahrnehmungsschichten erlauben, bewegen. Nach Erfolgsfilmen wie „Ziemlich beste Freunde“, „Heute bin ich Samba“ oder „Das Leben ist ein Fest“ wirkt „Hors normes“ in seiner sozialen Dimension tatsächlich noch etwas näher an die Realität gerückt. Auch wenn nicht alles davon stimmt. So hat eine Psychologin kritisiert, dass Autisten keineswegs immer hochbegabt sind, wie in diesem Film gezeigt. Da schimmert dann doch ein bisschen „Rain Man“ durch.